Название: Tunnel über der Spree
Автор: Hans Christoph Buch
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783627022723
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Auf Kursbuch und Transatlantik folgte Die Andere Bibliothek – jeder Band war ein Geniestreich, für den Enzensberger ein Logenplatz im Pantheon der Herausgeber und Verleger gebührt. Aber das ist nur die Spitze des Eisbergs, die offizielle Geschichte, deren inoffizielle Version er in den Memoiren erzählt, wo er dem Leser erstmals Einblick in sein sorgsam abgeschirmtes Privatleben gewährt.
Russischer Roman heißt der Hauptteil seines Buchs, den er in einem Schuhkarton im Keller entdeckt haben will, Aufzeichnungen von Reisen der sechziger Jahre in die UdSSR, wo Enzensberger seiner zweiten Frau Maria Makarowa begegnete und zusammen mit Sartre und anderen Koryphäen der Literatur Nikita Chruschtschow vorgestellt wurde. Das Porträt des bauernschlauen Parteichefs ist ein Kabinettstück präziser Beobachtung, gipfelnd in der Feststellung: »Von seiner größten politischen Leistung ahnt er nichts. Sie liegt in der Entzauberung der Macht … Den Personenkult dementiert er nicht allein ideologisch, sondern durch seine Person.« Dramatischer als jede Haupt- und Staatsaktion aber war die Liebe zu Mascha, der Tochter des Schriftstellers Alexander Fadejew, die Enzensberger, bürokratische Hürden überwindend, in Moskau heiratete und die sich Jahre später in London, dem Beispiel ihres Vaters folgend, das Leben nahm.
Anders als gewöhnliche fellow travellers ließ Enzensberger sich kein X für ein U vormachen und hatte den Propagandaschwindel durchschaut, noch bevor er die oben erwähnte Konversion vollzog. Der Verfasser der Memoiren bekennt seine Ratlosigkeit angesichts dieser Paradoxie, die er nachträglich so kommentiert: »Auch der Mensch war mir fremd, den ich in den Papieren, die ich in meinem Keller fand, angetroffen habe … Ich sah nur eine Möglichkeit, mich ihm zu nähern: Ich wollte ihn ausfragen. Doch war mir weder an einem Verhör noch an einer Beichte gelegen … Das Einzige, was mich interessierte, waren seine Antworten auf die Frage: Mein Lieber, was hast du dir bei alledem gedacht?«
»Sag mir wo du stehst«, lautete ein besonders dümmlicher Refrain aus der ehemaligen DDR, und wer Antworten auf diese und ähnliche Fragen erhofft (Warum schreiben Sie? Wen oder was wollen Sie mit Ihren Büchern erreichen?), der ist bei Enzensberger an der falschen Adresse. Auch Liebhaber erotischer Indiskretionen kommen nicht auf ihre Kosten: Nur einmal vergreift der sonst so stilsichere Autor sich im Ton, wenn er von »nie gevögelten Mädchen« spricht. »Notwendige Fehler sind solche, die jeder andere würde vermieden haben«, schreibt Lessing in seinem Laokoon-Essay, und dazu gehören gelegentliche Ausrutscher wie die Gleichsetzung Saddam Husseins mit Hitler oder die Aufforderung an alle, Handys und Smartphones in den Mülleimer zu werfen. Der Dichter braucht »einen Restbestand von Naivität« heißt es im Schlusskapitel seines Erinnerungsbuchs – gerade das sei es, was der Literatur ihren Freiheitsgrad verschafft. Und Enzensberger setzt hinzu: »Ein Schriftsteller, der Vorschriften für andere Schriftsteller aufstellt, ist ein Idiot.« Demgegenüber meinte Walter Benjamin, ein Schriftsteller, der andere Schriftsteller nichts lehrt, lehre niemanden etwas. Diesen Satz könnte ich Enzensberger entgegenhalten, aber ich lasse es bei der Drohung bewenden.
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