Tunnel über der Spree. Hans Christoph Buch
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Название: Tunnel über der Spree

Автор: Hans Christoph Buch

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

Серия:

isbn: 9783627022723

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СКАЧАТЬ hohes Tier, das nach Geld schielt

      Und vom Schreibtisch aus den Held spielt

      In feiner Kluft mit alten Orden

      Uns bleibt, was gut war und klar war …

      »Siehst du«, sagte Biermann lächelnd, »Guevara war kein Sesselfurzer wie du, sondern ein Revolutionär!« Doch der ungebetene Gast ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Det sachst du, Wolf, aber det sehen wir anders«, murmelte er und nippte angewidert am Tee, den Biermanns Mutter ihm einschenkte. An diesem Punkt mischte ich mich ins Gespräch und erklärte dem SED-Mann, Fidel Castro und Ernesto Che Guevara seien keine Kommunisten, sondern radikale Demokraten gewesen, die gegen das von den USA ausgehaltene Batista-Regime kämpften; Kubas KP habe den bewaffneten Aufstand nur halbherzig unterstützt. Diese nicht ganz schlüssige Argumentation entsprach meiner damaligen »undogmatischen« Position und wurde von vielen nicht moskauhörigen Linken geteilt. Der Funktionär gab sich einen Ruck und sah mich scharf an. Mein T-Shirt mit dem Aufdruck einer amerikanischen Universität hatte ihn misstrauisch gemacht, und er wollte wissen, ob ich aus Westberlin oder der BRD komme. »Aus Friedenau, wenn Sie es genau wissen wollen, aber zwischen der Bundesrepublik und Westberlin gibt es keinen großen Unterschied!«

      »Det sagen Sie, aber det sehen wir anders«, brummte er, ohne seine Aussage zu begründen. Das war auch nicht nötig, denn die Partei, der er angehörte, hatte die Macht, genauer gesagt: die Definitionsmacht über die Sprache, und sie entschied ganz allein, welche Bedeutung Begriffen wie Demokratie und Diktatur, DDR und BRD, Kuba oder Westberlin zukam, und welche nicht. Vielleicht ist das der Grund, warum mir der ständig wiederholte Satz in Erinnerung geblieben ist, mit dem der SED-Mann, ohne sich auf eine Diskussion einzulassen, das Gespräch bestritt, bevor er sich, vom Teetrinken ernüchtert, wieder verzog: »Das sagen Sie, aber das sehen wir anders!«

      Die Nachricht von Wolf Biermanns Ausbürgerung am 16. November 1976 erreichte mich in Norwegen, der letzten Station einer Lese- und Vortragsreise durch Skandinavien im Auftrag des Goethe-Instituts. Dort lief mir auf Flughäfen und in Bahnhöfen stets aufs Neue der französische Schriftsteller Claude Simon über den Weg, der vor Kaffeekränzchen seine später mit dem Nobelpreis prämierte Prosa las, während ich Tanzsäle und Turnhallen mit meinen Darbietungen füllte: eine Frage der Sprachbarriere, nicht der literarischen Qualität. Jedes Mal, wenn eine Blondine im Pelzmantel am Steuer eines Mercedes vorfuhr, stieß mich Claude Simon mit dem Ellbogen in die Seite und sagte: »Die ist für dich – mich holt niemand hier ab!«

      Ich weiß nicht, ob der lange Arm der DDR-Staatssicherheit bis nach Oslo reichte, aber nicht nur das norwegische Publikum, dem man es hätte nachsehen können, auch die Mitarbeiter des Goethe-Instituts schienen über die Ausbürgerung Biermanns nicht allzu empört zu sein, und ihr Protest gegen Erich Honeckers absolutistische Willkür klang äußerst gedämpft. Nur Claude Simon schlug andere Töne an: »Diesen Leuten ist alles zuzutrauen«, sagte der große Romancier, der im Spanischen Bürgerkrieg und im Zweiten Weltkrieg gekämpft hatte, dies aber, anders als Jean-Paul Sartre, der sich damals drückte, nie an die große Glocke hing. Als Sartre ihn mit dem Totschlagargument kritisierte, ein verhungertes Kind in Biafra wiege schwerer als ein Roman von Claude Simon, konterte er mit dem Satz: »Seit wann werden Babyleichen und Bücher auf der gleichen Waage gewogen?«

      »Denen ist alles zuzutrauen«, sagte der Maestro des nouveau roman und sah mich mit seinen an Picasso erinnernden, übergroßen Augen an: »Denen ist alles zuzutrauen, sie schrecken vor nichts zurück!« Und er trug mir Grüße an Wolf Biermann auf, die ich hiermit ausrichte.

      Literatur ist eine Frage des Charakters

       Brief an Peter Schneider

      Lieber Peter!

      Bewusst begegnet bin ich Dir zum ersten Mal im Sommer 1964 im Literarischen Colloquium, das gerade erst ein neues Domizil am Wannsee bezogen hatte. Wir saßen in Liegestühlen auf der zum Seeufer abfallenden Wiese, und Du machtest scharfsinnige Bemerkungen zu zwei kurz zuvor erschienenen Texten von mir und trafst jedes Mal den Nagel auf den Kopf. In einer Rezension über Robert Walsers Erstlingsroman Jakob von Gunten hatte ich geschrieben, für eine gelungene Formulierung von Robert Walser gäbe ich ganze Bibliotheken der Gegenwartsliteratur her, und Du erklärtest diese Behauptung für überspannt und unsinnig, unabhängig von der Qualität des in Frage stehenden Buchs. Gleichzeitig lobtest Du eine in einer österreichischen Zeitschrift erschienene Kurzgeschichte von mir, die von Zwillingsbrüdern handelte, deren einer, angespornt und gleichzeitig gestört von seinem Bruder, Selbstmord zu begehen versucht – dass Du Dich für Zwillingsforschung interessierst, wusste ich damals noch nicht.

      Was mich beeindruckte und darüber hinaus neugierig machte, war die Sicherheit Deines literarischen Urteils, das nichts Apodiktisches an sich hatte, im Gegenteil: Es bereitete Dir sichtliches Vergnügen, die Denkschritte darzulegen, die Dich zu bestimmten Schlussfolgerungen führten. Schreiben war für Dich eine sportliche Betätigung wie Pingpong, Skilaufen oder Tennis – psychische und physische Gymnastik zugleich. Daran hat sich bis heute nichts geändert: Anders als viele Deiner Generationsgenossen hast Du Deine körperliche und geistige Frische bewahrt, und die Lust, die Du beim Formulieren Deiner Gedanken empfindest, teilt sich den Lesern Deiner Romane, Erzählungen und Essays mit. Dabei war und ist lautes Denken in der deutschsprachigen Literatur eher die Ausnahme als die Regel – Lessing und Schiller werden in diesem Zusammenhang gern genannt – und muss weder Verzicht auf Sinnlichkeit bedeuten noch Hang zu philosophischer Abstraktion.

      Wenn ich Dein Denkvermögen lobe, so meine ich damit eher logischen Scharfsinn als dialektisches L’art pour l’art, weshalb die 1968er Linke wenig Freude an Dir hatte, denn statt unwiderruflicher Dogmen predigtest Du den radikalen Zweifel an liebgewordenen Überzeugungen, auch wenn diese beglaubigt waren durch damals nicht hinterfragbare Autoritäten wie Mao oder Marx. Dein radikalster Text, die auf den Langen Marsch bezugnehmende Rede an die deutschen Leser und ihre Schriftsteller, trieb Dich nicht in die Arme der damals wie Pilze aus dem Boden schießenden maoistischen Sekten, sondern hat Dich gegen deren Anspruch, die revolutionäre Avantgarde zu sein, auf Dauer immun gemacht. Und Deine zum Kultbuch avancierte Novelle Lenz stellte ebenso einen Abgesang auf die Studentenbewegung dar, deren Verfallssymptome sie thematisierte, wie eine Rechtfertigung des ursprünglichen Impulses der Revolte, den Du gegen dogmatische Besserwisser verteidigt hast, weil Dir die Infragestellung von Autoritäten gerade im deutschen Kontext wichtig war. Der Text der Novelle ist häufig mit Büchners Lenz verglichen worden, mit dem er, bei Licht betrachtet, nur wenig gemein hat; ein Vergleich mit den Leiden des jungen Werther wäre aufschlussreicher, sowohl was Dein Italienbild wie auch was die Utopie des erotischen Begehrens betrifft, das den Rahmen der politisch-sozialen Revolte sprengt: »Wie froh bin ich, dass ich weg bin!« Der oft überlesene Eingangssatz von Goethes Werther hätte Deinem Lenz als Motto voranstehen können.

      Hättest Du rechtzeitig Copyrightschutz beantragt, lieber Peter, wärst Du heute mehrfacher Millionär, denn der nach 1989 inflationär gebrauchte Slogan von der »Mauer im Kopf« tauchte zum ersten Mal in Deiner Erzählung Mauerspringer auf. Das 1984 erschienene Buch hatte prophetischen Charakter: Noch vor Martin Walser, dessen patriotische Denkanstöße eher Gefühlsaufwallungen waren, warst Du der Erste, der den Abriss der Mauer forderte, nicht mit nationalistischem Schaum vorm Mund, sondern mit logisch stringenten Argumenten. Berlin vor und nach dem Mauerfall – dieses Dir wohlvertraute Terrain hast Du in den Romanen Paarungen und Eduards Heimkehr erneut abgeschritten. Zusammen mit Deinen zeitgleich entstandenen Essays stellte die Berlin-Trilogie einen Höhepunkt Deines Schaffens dar und löste die Forderung der Feuilletons nach dem großen Roman zur deutschen Wiedervereinigung glaubhaft ein: als Chronik der Hoffnungen und Enttäuschungen, Irrtümer und Illusionen der Wendezeit.

      Hier ist nicht der Ort, Dein Gesamtwerk vorzustellen, dessen Facettenreichtum СКАЧАТЬ