Название: Gefährlich gute Grooves
Автор: John Taylor
Издательство: Bookwire
Жанр: Изобразительное искусство, фотография
isbn: 9783854454090
isbn:
Diese Schlichtheit verstärkte bei den Gläubigen von St. Jude die Vorstellung, auserwählt zu sein. Warum sonst sollten wir uns an diesem kalten, hässlichen Ort versammeln, wenn wir nicht gewiss sein konnten, dafür belohnt zu werden?
Pater Cassidys großartige Spendenkampagne in den Siebzigerjahren hatte schließlich eine neue St.Jude’s-Kirche zum Ergebnis. Das war keine geringe Leistung. Keiner der Kirchgänger war wohlhabend oder gar reich. Alle mussten auf den Penny achten. Von diesen Gemeindemitgliedern Geld einzusammeln, um davon eine neue Kirche zu bauen, erforderte viel Überredungskunst.
Zum Glück hatte der Pater Gott auf seiner Seite.
Unser Sinn für Gemeinschaft führt uns durch die kleine Eingangshalle, wo auf einfachen Holztischen Bücher ausliegen; manche muss man kaufen, andere sind kostenlos. Es gibt Sachbücher, Bibeln, Liederbücher und andere Artikel wie Rosenkränze, Kruzifixe und Schmuckanhänger in Gestalt des Heiligen Judas Thaddäus, des Schutzpatrons der hoffnungslosen Fälle.
Weiter ins Mittelschiff, wo es nach Schweiß und Weihrauch vom Vortag riecht. Meist ist es kühl hier drin, manchmal warm, aber nie heiß. Ein großer, rothaariger Mann spielt auf einer klapprig aussehenden Orgel, aus deren Pfeifen zarte, flüchtige Musik ertönt. Eno würde sie atmosphärisch nennen. Träge brennende Kerzen verströmen einen gottgefälligen Duft.
Schlag elf beginnt die Messe. Der Priester kommt schick gekleidet herein, gefolgt von zwei jungen Männern in weißen Gewändern – das Team des Geistlichen, seine Truppe. Einer von ihnen schwenkt einen silbernen Kelch, aus dem noch mehr Weihrauch strömt. Die Luft in der Kirche muss gründlich gereinigt werden, bevor der gute Pater sie einatmen kann.
Er trägt eine kunstvolle Robe aus grün-goldener Seide mit einem roten Kreuz auf dem Rücken. Unterhalb des Umhangs geben die knöchellangen, umgekrempelten Hosenbeine den Blick auf schwarze Socken und Straßenschuhe frei.
Die Musik schwillt an, und wir stehen alle auf. Der rothaarige Mann leitet uns in ein Lied, das wir alle gut kennen, „The Lord Is My Shepherd“. Ich öffne das Gesangbuch, um den Text zu lesen. Ich mag dieses Lied, aber wie Mum bin ich zu verlegen, um laut mitzusingen. Ich wünschte, ich könnte es, aber es geht einfach nicht. Doch ich mag das Gemeinschaftsgefühl, das entsteht, wenn alle im Raum dieselben Worte singen.
Als das Lied zu Ende ist, schreitet der Priester zum Podium. Er blickt hinunter auf seine Bibel, öffnet weit seine Hände und sagt: „Lasst uns beten.“
2: Jack, Jean und Nigel
Die Kirche war einfach da. Wie der Strom, die Heizung oder das Schwarzweiß-Fernsehen – etwas, das einfach existierte. Ich nahm an, dass jeder fünf Mal die Woche hinging. Ich wusste nicht, dass ich anders war, ich war römisch-katholisch.
Man hinterfragt solche Dinge nicht, wenn man klein ist. Ich fragte nie, warum Mum und ich fast jeden Tag zur Kirche gingen, oder warum Dad, wenn er uns sonntags hinfuhr, uns einfach absetzte und nachher wieder abholte.
Meine Eltern sind in der Innenstadt von Birmingham aufgewachsen. Mum war in Liverpool zur Welt gekommen. Als sie noch ein Kleinkind war, zog ihre Familie, die Harts, nach Birmingham in die Colemeadow Road, wo sie ein großes, freistehendes Eckhaus bezog. Sie brauchten den Platz: Mum war eine von fünf, bis ihre Schwester Nora Trevor zur Welt brachte, der mit in der Familie aufwuchs. Das machte sechs. Ihr Vater Joseph, der vor meiner Geburt starb, widmete sein Berufsleben der Gewerkschaftsarbeit; er hatte ursprünglich eine Stelle in Liverpool bei der Gewerkschaft der Werftindustrie, zog aber für einen besseren Job nach Birmingham um. Der Bürgermeister von Birmingham kam zu seiner Beerdigung. Ging man die Straße, in der die Harts wohnten, ein Stück hoch, wurden die Behausungen kleiner; enge, solide gebaute viktorianische Reihenhäuser, klein aber fein, die Toilette nach hinten raus.
In einem davon, in der Nummer 10, lebten die Taylors.
Mein Vater Jack – eigentlich John – wurde 1920 geboren. 1939 war er also neunzehn, was ihn zu Frischfleisch für den Zweiten Weltkrieg machte. Er wurde nach Ägypten verschifft, wo er einen Posten in der Verwaltung erhielt; er war Bürogehilfe, kutschierte aber auch Trucks und Offiziere über den Standort. Als er für ein freies Wochenende, das er eigentlich in Kairo verbringen wollte, den Dienst mit einem anderen Soldaten tauschte, sollte das nicht ungestraft bleiben. An diesem Wochenende besetzte die deutsche Armee den Stützpunkt, an dem Dad stationiert war, und nahm ihn und viele andere gefangen. Die britischen Kriegsgefangenen wurden dann über Italien nach Deutschland gebracht und im Stalag 344 interniert.
Dad verbrachte dort die restlichen drei Kriegsjahre. Er musste von rohen Kartoffeln, wässriger Suppe und gelegentlichen Lebensmittelpaketen des Roten Kreuzes leben. Immerhin rauchte er nicht und konnte seine Tabakrationen gegen ein paar zusätzliche Kartoffeln eintauschen.
Mum pflegte zu mir im Vertrauen zu sagen: „Dein Vater hatte eine schreckliche Zeit im Krieg, aber er würde nie darüber reden.“ Dads Kriegserfahrung, das war der kakifarbene Elefant in unserem Wohnzimmer. Niemand konnte darüber sprechen, aber wir lebten alle damit, immer noch, zwanzig Jahre danach.
Heute ist mir klar, dass Dad an einer posttraumatischen Belastungsstörung litt und eine Therapie gebraucht hätte, wie er sie heutzutage auch bekommen würde. Das Äußerste, was man zu dem Thema aus ihm herausbekam, wenn man ihn drängte, war: „Ich hatte es leicht verglichen mit George.“
George war Dads Bruder. Ihr Vater war gestorben, als Dad fünf und George zehn war, so wurde George so etwas wie ein Ersatzvater. Dad verehrte ihn. George leistete seinen Militärdienst in Burma und geriet in japanische Gefangenschaft. Er war in einer Mine in der Nähe von Nagasaki, wenige Meilen von der Stelle entfernt, wo die Atombombe fiel, und er spürte die Explosion.
Als Dad nach dem Krieg inmitten der Siegesfeiern zurück nach Birmingham kam, waren seine Mutter Frances und seine ältere Schwester Elsie natürlich überglücklich. Aber noch immer war die Sorge in der Familie groß, denn von George hatte man noch nichts gehört. Man wusste nicht einmal, ob er noch lebte. Das warf einen Schatten auf Dads Heimkehr.
Fast ein Jahr später ereignete sich eine Szene wie aus einem Steven-Spielberg-Film. Dad wartete auf einen Bus, der ihn zur Arbeit bringen sollte, als er mit Mühe eine Gestalt erkannte, die aus dem Morgennebel heraus die Straße herunter auf ihn zukam. Es war sein Bruder George. Er war seit dem Sieg über Japan frei, aber ausgemergelt und erschöpft, nicht nur von seiner Gefangenschaft, sondern auch von seiner langen Heimreise über den Pazifik und dann mit dem Zug durch die USA.
Ich bin sicher, dass auch Dad für George verändert aussah. Aber diszipliniert und stoisch wie sie waren, werden diese beiden Männer keine Tränen vergossen haben. Ein Handschlag, sicher, vielleicht eine Umarmung. Dad mochte ein paar Busse fahren gelassen haben, aber ich bezweifle, dass er sich den Tag frei nahm. Zu weinen, das wäre etwas für Frauen gewesen.
Diese Geschichte war so schwer für meinen Vater, dass er mir erst davon erzählte, als er in seinen Achtzigern und ich über vierzig war.
Wenn man in den 1960ern in England aufwuchs, war der Zweite Weltkrieg allgegenwärtig. Er war ein gewaltiges Ereignis, von dem jeder betroffen war. Während Dad sich nur widerstrebend auf das Thema einließ, konnten alle anderen nicht aufhören, darüber zu sprechen. Es beherrschte das Fernsehen und das Kino.
Meine Mutter Jean, ihr Taufname ist Eugenie, hatte ihre eigenen Erfahrungen aus der Kriegszeit. Damals СКАЧАТЬ