Название: Das Haus der Freude
Автор: Edith Wharton
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Reclam Taschenbuch
isbn: 9783159618593
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Natürlich war Lily stolz auf die Tüchtigkeit ihrer Mutter in dieser Beziehung; sie war in dem Glauben erzogen worden, dass man, koste es, was es wolle, einen guten Koch haben und, wie Mrs. Bart es nannte, »anständig angezogen« sein musste. Mrs. Barts schlimmster Vorwurf ihrem Gatten gegenüber war die Frage, ob er denn erwarte, dass sie »im Dreck« leben sollten, und seine verneinende Antwort wurde immer als Rechtfertigung dafür angesehen, in Paris per Telegramm das eine oder andere zusätzliche Kleid zu bestellen und den Juwelier anzurufen, dass er schließlich doch das Türkisarmband schicken sollte, das Mrs. Bart sich am Morgen angesehen hatte.
Lily kannte Leute, die »im Dreck« lebten, und deren Erscheinung und Umgebung rechtfertigten den Widerwillen ihrer Mutter gegen eine solche Lebensform. Diese Leute waren meist Cousins, die in schäbigen Häusern wohnten, mit Kupferstichen nach Coles »Reise des Lebens«2 an den Wänden ihres Salons und schlampigen Hausmädchen, die »Ich werde nachsehen« zu den Besuchern sagten, die ihre Visite zu einer Stunde machten, in der alle anständigen Leute herkömmlicherweise oder auch wirklich ausgegangen waren. Das Widerwärtige an der Sache war, dass viele dieser Cousins reich waren, so dass in Lily die Vorstellung entstand, dass Leute, die im Dreck lebten, es aus freier Wahl taten und weil ihnen jegliches Anstandsniveau in ihrem Verhalten fehlte. Dies vermittelte ihr das Gefühl bewusster Überlegenheit, und Mrs. Barts Kommentare über die Vogelscheuchen und Geizhälse in der Familie waren nicht notwendig, um Lilys von Natur aus ausgeprägten Geschmack am Luxus zu fördern.
Lily war neunzehn, als die Umstände sie zwangen, ihre Weltsicht zu revidieren.
Im Jahr zuvor hatte sie ein glanzvolles Debüt gehabt, an dessen Rand allerdings eine schwere Gewitterwolke voller Rechnungen aufzog. Das Licht ihres Debüts hing noch am Horizont, aber die Wolke war dunkler geworden und plötzlich brach sie auf. Diese Plötzlichkeit verstärkte den Schrecken, und es gab noch immer Zeiten, in denen sie von neuem mit schmerzhafter Genauigkeit jede Einzelheit des Tages durchlebte, an dem der Schlag fiel. Sie und ihre Mutter hatten am Mittagstisch gesessen, vor ihnen das chaufroix3 und kalter Lachs vom Dinner des vergangenen Abends; es gehörte zu Mrs. Barts wenigen Einsparungen, im Familienkreis die teuren Überbleibsel ihrer Gastlichkeit zu verzehren. Lily empfand die angenehme Mattigkeit, welche die Strafe der Jugend dafür ist, bis zum Morgengrauen getanzt zu haben; ihre Mutter aber war trotz einiger Linien um den Mund und auf ihren Schläfen unter den blonden Haarwellen so munter, entschlossen und rosig, als ob sie nach ungestörtem Schlaf aufgestanden wäre.
In der Mitte des Tisches zwischen den schmelzenden marrons glacés4 und den kandierten Kirschen erhob eine Pyramide aus Rosen ihre kräftigen Stengel; die Blumen hielten ihre Köpfe so hoch wie Mrs. Bart, aber ihre rosarote Farbe hatte sich in verbrauchtes Lila verwandelt, und Lilys Sinn für das Angemessene wurde durch ihr Wiederauftauchen auf dem Mittagstisch verletzt.
»Ich finde wirklich, Mutter«, sagte sie vorwurfsvoll, »wir könnten uns zum Mittagessen ein paar frische Blumen leisten. Nur ein paar Narzissen oder Maiglöckchen –«
Mrs. Bart sah ausdruckslos vor sich hin. Ihre eigene Überempfindlichkeit richtete sich auf die Welt, und es war ihr gleichgültig, wie ihr Mittagstisch aussah, wenn niemand da war außer ihrer Familie. Aber sie lächelte über die Unschuld ihrer Tochter.
»Maiglöckchen«, sagte sie ruhig, »kosten zurzeit zwei Dollar das Dutzend.«
Lily war unbeeindruckt. Sie wusste sehr wenig vom Wert des Geldes.
»Wir würden nicht mehr als sechs Dutzend brauchen, um diese Schale zu füllen«, wandte sie ein.
»Sechs Dutzend wovon?«, fragte die Stimme ihres Vaters an der Türe.
Die zwei Frauen schauten erstaunt auf, denn, obwohl es Samstag war, war der Anblick von Mr. Bart zur Mittagszeit doch ungewohnt. Aber weder seine Frau noch seine Tochter waren interessiert genug, nach einer Erklärung zu fragen.
Mr. Bart ließ sich in einen Sessel fallen, saß da und starrte geistesabwesend auf ein Stück Lachs in Aspik, das der Butler ihm vorgesetzt hatte.
»Ich habe nur gesagt«, fing Lily wieder an, »dass ich es hasse, verwelkte Blumen auf dem Mittagstisch zu sehen, und Mutter sagt, ein Strauß Maiglöckchen würde nicht mehr als zwölf Dollar kosten. Darf ich dem Blumenhändler nicht sagen, er soll jeden Tag ein paar schicken?«
Sie wandte sich zuversichtlich an ihren Vater, denn er verweigerte ihr selten etwas, und Mrs. Bart hatte ihr beigebracht, ihn zu bitten, wenn ihre eigenen Bemühungen versagten.
Mr. Bart saß regungslos da, den Blick noch immer fest auf den Lachs gerichtet, sein Kinn hing schlaff nach unten; er sah sogar noch blasser aus als sonst, und sein dünnes Haar lag in unordentlichen Strähnen auf der Stirn. Plötzlich sah er seine Tochter an und lachte. Sein Lachen war so sonderbar, dass Lily darüber rot wurde; sie hatte es nicht gern, wenn man über sie lachte, und ihr Vater schien an ihrer Bitte irgendetwas lächerlich zu finden. Vielleicht fand er es dumm von ihr, ihn wegen einer solchen Kleinigkeit zu belästigen.
»Zwölf Dollar – zwölf Dollar pro Tag für Blumen? O natürlich, mein Liebes – bestelle doch gleich Blumen für zwölfhundert.« Er lachte noch immer.
Mrs. Bart warf einen kurzen Blick auf ihn.
»Sie brauchen nicht zu warten, Poleworth – ich werde nach Ihnen läuten«, sagte sie zum Butler.
Der Butler zog sich mit dem Ausdruck stiller Missbilligung zurück, die Reste des chaufroix ließ er auf dem Buffet stehen.
»Was ist los, Hudson? Bist du krank?«, sagte Mrs. Bart streng.
Sie hatte für Szenen, die nicht von ihr selbst gemacht wurden, nichts übrig, und sie fand es abscheulich von ihrem Gatten, dass er sich vor den Dienstboten eine solche Blöße gab.
»Bist du krank?«, wiederholte sie.
»Krank? – Nein, ich bin ruiniert«, sagte er.
Lily gab einen erschreckten Laut von sich, und Mrs. Bart stand auf.
»Ruiniert –?«, rief sie, doch sie hatte sich sofort wieder in der Gewalt und schaute Lily mit ruhiger Miene an.
»Schließ die Tür zum Anrichteraum«, sagte sie.
Lily gehorchte, und als sie sich wieder umwandte, saß ihr Vater da, die Ellenbogen auf den Tisch gestützt, den Teller mit Lachs dazwischen, und den Kopf auf die Hände gebeugt.
Mrs. Bart beugte sich über ihn, ihr Gesicht war weiß, was ihr Haar unnatürlich gelb erscheinen ließ. Als Lily näher kam, sah ihre Mutter sie an: Ihr Blick war zum Fürchten, aber sie gab ihrer Stimme einen gespenstisch heiteren Klang.
»Dein Vater fühlt sich nicht wohl – er weiß nicht mehr, was er sagt. Es ist weiter nichts, aber du gehst besser nach oben; und sprich nicht mit den Dienstboten darüber«, fügte sie hinzu.
Lily gehorchte; sie gehorchte immer, wenn ihre Mutter mit dieser Stimme sprach. Mrs. Barts Worte hatten sie nicht täuschen können, sie wusste gleich, dass sie ruiniert waren. In СКАЧАТЬ