Unklare Verhältnisse. Inga Brock
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Название: Unklare Verhältnisse

Автор: Inga Brock

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

Серия: Lindemanns

isbn: 9783881909990

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СКАЧАТЬ Da hatte die jüdische Familie gewohnt, dort der Onkel von dem, die Cousine von der und so weiter. Svenja war die kleinere der beiden Enkeltöchter, und sie liebte das. An den alten Musiklehrer vom Opa Hans denkt sie heute noch jedes Mal, wenn sie mit dem Auto durch die Yorckstraße fährt.

      Der Opa hat die Geschichten immer angefangen, und die Oma hat sie zu Ende erzählt. Den Opa hat das geärgert.

      Den beiden Enkeltöchtern war Regenwetter sonntags am liebsten. Dann unterhielten sich die Großen im Esszimmer. Der Opa schlief dabei fast jedes Mal ein. Er kippte auf dem kleinen Beistellsofa einfach zur Seite weg. Die Enkeltöchter hörten sein Schnarchen auch noch im Nebenzimmer, dem eigentlichen „Wohnzimmer“ mit Riesenschrankwand und Bordüren an den Kissen. Dort durften sie bis zum Abendessen fernsehen. „Bonanza“, „Lassie“, „Unsere kleine Farm“, „Die Waltons“. Die Oma bestückte den Couchtisch flächendeckend mit Süßigkeiten: Schaumerdbeeren von Haribo, Flips, Chips, Salzstangen, Brausetütchen und Katzenzungen.

      Svenja war kein dickes Kind. Ihr wurde kein einziges Mal schlecht, obwohl sie sich ranhielt. Sie blieb Bohnenstange, bis sie 15 war, und John-Boy war ihre erste große Liebe.

      Es klingelt. „Schwester Monika“, sagt die Oma von heute und geht zur Tür.

      „Ich komme schon“, sagt sie beim Öffnen, „bin schon da.“

      Schwester Monika ist klein und stämmig und freundlich.

      „Wie geht’s, Frau Thienemann?“, fragt sie und schiebt die Oma in Richtung Ohrensessel. Seit einem Jahr braucht sie Hilfe beim Anziehen der Stützstrümpfe, jeden Morgen.

      „Meine Enkelin“, sagt die Oma und nickt stolz in Richtung Esstisch.

      „Hallo“, sagt Schwester Monika, und gibt Svenja die Hand ohne sie anzusehen.

      „Dann wollen wir mal.“

      Die Oma öffnet ihre Bundfaltenstoffhose und lässt sie runterrutschen. Die Enkeltochter schaut weg. Und wieder hin. Der Oma ist das nicht unangenehm. Halb nackt wirkt die Oma noch älter und hilfloser.

      Es stört die Enkelin, dass jemand Fremdes die Oma anfasst.

      Mit achtundsechzig Jahren ist die Oma zum ersten Mal gestürzt. „Typisch“, hatte ihre Schwiegertochter, Georgs Frau, dazu nur gemeint.

      „Was fährt sie auch extra mit dem Bus in die Stadt, nur um drei Orangen zu kaufen. Die hätten wir ihr doch auch mitbringen können.“

      Die Oma war aus dem Bus gestiegen und hatte fast schon mit beiden Füßen auf der Straße gestanden. Dann ist es passiert.

      „Und immer voll aufs Gesicht, ausgerechnet.“ Die Schwiegertochter meinte es nicht so.

      Als der Opa starb, hat die Oma ein Jahr lang Schwarz getragen. Im Dorf, im alten Dorf, das von den Zugezogenen auf den Windwiesen noch nichts gewusst hat, haben die anderen Frauen bis zu sieben Jahre Trauer getragen. Witwentracht.

      Den Granatschmuck ließ die Oma im Kästchen liegen, und auch die Augenbrauen zog sie sich nicht mehr nach.

      Bei der Beerdigung hat sich der Pfarrer vertan und den Großvater Otto genannt, nicht Hans.

      „Otto Thienemann fuhr für sein Leben gerne Kanu.“ Mit achtzehn ist ihr Hans das letzte Mal mit dem Kanu unterwegs gewesen.

      Die schönste Erinnerung an den Opa ist, wie er nach dem Essen (die Zeit der Russischen Eier ist längst vorbei und die beiden Enkeltöchter so gut wie aus dem Haus) in seiner Hemdtasche nach den Revals kramt. „Wer Reval raucht, frisst kleine Kinder“, hieß es. Der Opa hätte eher sich selbst aufgefressen.

      Die Schachtel hatte das gleiche Orange wie Creme 21. Sie war immer ganz zerknickt, wenn er sie aus seiner Brusttasche hervorholte. Dann strich er sie glatt, Tabak krümelte heraus und die Oma zog die Augenbrauen hoch.

      „Kommst du mit rüber und erzählst mir von deinem neuen Freund?“

      Svenja ging mit ihm zusammen ins andere Zimmer, wo sie ihm nicht von ihrem neuen Freund erzählte, sie hatte seit drei Jahren denselben und alle wussten das. Der Opa wollte eine von ihren Camels und sie eine von seinen Revals. Möglicherweise war er ein kluger Opa. Sie stießen den Rauch durch die Nasenlöcher aus, und er versuchte, ihr das Kringelmachen beizubringen. Die Eltern haben erst Jahre später mitbekommen, dass die jüngere Tochter raucht. Da war der Opa schon an Nierenversagen gestorben. Mit neunundsechzig Jahren auf der Krankenhaustoilette.

      Fast bis zuletzt hat die Enkeltochter in seinem Gesicht erkennen können, wie gut er als junger Mann aussah.

      Die Oma war sehr tapfer. Sie weinte, wenn sie alleine war. „Alleinstehend“ war ab sofort wörtlich zu nehmen.

      In dieser Zeit fingen die Gespräche an. Der Opa sei nie ein Kind von Traurigkeit gewesen, aber welcher Mann sei das schon.

      „Vor allem die Männer meiner Generation.“

      Sie habe sofort gespürt, dass der Kollege in Freiburg gar kein Kollege gewesen sei.

      „Ein Jahr lang hat er mich hinterher nicht mehr anfassen dürfen, nichts ist da mehr gelaufen.“

      Und noch immer kommen ihr, Triumph in der Stimme, die Tränen.

      Einmal sagte sie ohne Einleitung und Umschweife: „Ich hatte noch nie einen Orgasmus.“

      Svenja erschrak nicht, es kam ihr ganz normal vor, dass sie auch darüber sprechen wollte. Sie wunderte sich nur darüber, dass die Oma den Begriff so selbstverständlich gebrauchte.

      „Ich lag einfach nur da, und war froh, wenn es vorbei war.“

      Sie schob einen Teller mit Erdnüsschen zu ihrer Enkelin.

      „Männer sind so“, sagte sie und tat Svenja leid.

      „Schmusen, das konnte dein Opa nicht.“

      Den Opa und die Oma hatte tatsächlich keine der beiden Enkeltöchter je miteinander schmusen sehen, den Vater und die Mutter aber auch nicht. Nur kopulieren.

      An manchen Sonntagen wurden Ausflüge gemacht. Ohne die Eltern. Wenn sie mal Ruhe brauchten oder „was vorhatten“. Dafür fuhr das Nachbarsehepaar der Großeltern mit; Kolonne bis in den Schwarzwald. Natürlich fuhren Lindenbergers voraus, schließlich hatte Herr Lindenberger einen cremeweißen Mercedes und der Opa nur einen alten Ford Taunus. Den Opa wurmte das, während Herr Lindenberger Zigarre paffte und ab und zu in den Rückspiegel winkte. Seine Frau war klein und drall und speckig. Sie lachte gäckernd, wie eine Ziege, und stellte hinter jeden Satz ein schwungvolles „gelt?“.

      Der Opa ließ sich seine gute Laune nicht nehmen, darum wurde im zweiten Fahrzeug lauthals gesungen: „Wenn die bunten Fahnen wehen“, „My Bonnie is over the ocean“, „Es saßen zehn Gestalten auf einem Donnerbalken“, „Ein belegtes Brot mit Schinken“ und so weiter.

      Die Oma und der Opa trugen Wanderkleidung, Lindenbergers auch, und natürlich: Spazierstöcke mit Wanderabzeichen aus dem Schönen Berner Oberland, dem Engadin und aus Kufstein. Wenn Herr Lindenberger beim Wandern zu singen anfing und die Mädchen zum Mitsingen ermunterte, blieben sie stumm wie Fische. Der Opa grinste.

      Lindenbergers hatten keine Enkelkinder und mochten СКАЧАТЬ