Dolmetschen als Dienst am Menschen. Группа авторов
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СКАЧАТЬ verurteilter Drogensüchtiger (ein klassischer Fall des Kleinkriminellen nach Scheiber), dann ein abgeschobener Totalversager und schließlich ein Mörder, der in der Rolle des „Asylanten“ dafür herhalten muss, dass generell für Asylwerber die Sicherungshaft gefordert wird? Das genaue Gegenteil bietet der Fall Nour, die Flüchtlingsfamilie aus Syrien, die zunächst im Libanon aufgenommen, dann über die Caritas nach Wien eingeflogen und bis zur Weiterfahrt nach Vorarlberg betreut wird, wo dank der dortigen Institutionen und einer aufgeschlossenen Floristenfamilie eine Lehre sowie Deutschunterricht zustande kommt. Zusammenfassend: Wenn der Wille auf beiden Seiten gegeben ist, kann die Kulturproblematik durch sprachliche Unterstützung, Empathie und ausreichende Information, und nicht zuletzt Hilfe bei bürokratischen und rechtlichen Hürden sehr wohl überwunden werden.

      Genau das ist in den letzten Jahrzehnten bei der Zuwanderung nach Österreich geschehen, und bekanntlich zum Wohle des Landes. Im Oktober 2011 habe ich mit Mira Kadrić ein Symposium mit dem Rahmenthema „Sprache, Identität, Translationswissenschaft“ organisiert; für den Titel ihres Vortrags prägte sie einen sehr aussagekräftigen Begriff: „Die Multiminoritätengesellschaft“ (Kadrić 2012) – so lautete dann auch der Titel der darauf folgenden Publikation (Snell-Hornby & Kadrić 2012). Die Teilnehmenden am Symposium und späteren AutorInnen dieses Bandes hatten fast alle einen multikulturellen Hintergrund im weitesten Sinn: In diesem Fall lag der Schwerpunkt auf Südosteuropa, und manche waren in den 1990er-Jahren als Flüchtlinge nach Österreich gekommen. Solche Menschen verkörpern die kulturelle Vielfalt unseres Kontinents und sind eine Bereicherung für das Land, allen voran Mira Kadrić selbst, die in den 1980er-Jahren zum Studium nach Wien kam, wo sie eine herausragende wissenschaftliche Karriere aufgebaut hat und im Fach Dolmetschwissenschaft international anerkannte Pionierarbeit leistete. In ihrem Bereich Dialogdolmetschen ging es über rein sprachliche Probleme hinaus um wichtige Aspekte der Kultur und des Rechts, nicht zuletzt, wie ihr neuer Universitätslehrgang gezeigt hat, bei Polizei und Asylbehörden und vor allem mittels „exotischer“ Sprachen. Unklar sind noch die konkreten Ergebnisse in unserer Gesellschaft: Ob sich die Asylsuchenden als gut integrierte Fachkräfte, wie die Teilnehmenden am Wiener Symposium, hier heimisch fühlen, oder ob sie, wie die Israeliten in der babylonischen Gefangenschaft, in Gedanken noch jahrelang sehnsüchtig in der verlorenen Heimat verharren, ist wohl der wesentliche Punkt. Die hier geschilderten Beispiele sprechen eher dafür, dass moderne Asylsuchende eine neue Heimat suchen und – im Gegensatz zu den Gefangenen in Verdis „Nabucco“ – ebendort in Gedanken und Träumen verharren, um Perspektiven zu finden und ein sinnvolles Leben aufzubauen, wenn man es ihnen nur erlaubt und ihnen dabei hilft. Eine eindrückliche Bestätigung dafür liefert Ivana Havelka, eine Dissertantin von Mira Kadrić, in der Danksagung an ihre Eltern am Anfang ihrer 2018 als Buch erschienenen Doktorarbeit: „Sie haben mich gelehrt, Grenzen zu überwinden und niemals aufzugeben – als einstiges Gastarbeiterkind seinen Platz in der Gesellschaft zu suchen und zu finden.“ (2018:6)

      Bibliographie

      Berger, Jutta (2020a). „Lebenslange Haft für Mord an Amtsleiter.“ Der Standard 23/01/2020, 10.

      Berger, Jutta (2020b). „Angeklagter in Mordprozess ist zurechnungsfähig.“ Der Standard 22/01/2020, 10.

      Die Bibel oder die ganze Heilige Schrift des Alten und Neuen Testaments nach der Übersetzung D. Martin Luthers. 1812. Stuttgart: Privilegierte Württembergische Bibelanstalt.

      Havelka, Ivana (2018). Videodolmetschen im Gesundheitswesen. Dolmetschwissenschaftliche Untersuchung eines österreichischen Pilotprojekts. Berlin: Franke & Timme.

      Kadrić, Mira (2000). Dolmetschen bei Gericht. Aufforderungen, Erwartungen, Kompetenzen. Wien: facultas.

      Kadrić, Mira (2011). Dialog als Prinzip. Für eine emanzipatorische Praxis und Didaktik des Dolmetschens. Tübingen: Narr.

      Kadrić, Mira (2012). „Die Multiminoritätengesellschaft. Zur Bedeutung der Sprache und Kultur im geeinten Europa.“ In: Snell-Hornby, Mary/Kadrić, Mira (Hrsg.), 13–26.

      Kadrić, Mira (2019). Gerichts-und Behördendolmetschen. Prozessrechtliche und translatorische Perspektiven. Wien: Facultas.

      Meinhart, Edith (2019). „Du hättest nur nett sein müssen.“ profil 14, 32–36.

      Reichart, Nora (2020). „Erfahrungsbericht zum ULG Dolmetschen für Gerichte und Behörden.“ Universitas Mitteilungsblatt 2/20, 23–24. Abrufbar unter: https://www.universitas.org/wp-content/uploads/Universitas_220_web.pdf (Stand: 22/08/2020).

      Scheiber, Oliver (2019). Mut zum Recht! Plädoyer für einen modernen Rechtsstaat. Wien: Falter-Verlag.

      Scheidl, Heide Maria (2020). „Universitätslehrgang „Dolmetschen für Gerichte und Behörden“: Zahlen, Daten, Fakten.“ Universitas Mitteilungsblatt 2/20, 25. Abrufbar unter: www.universitas.org./wp-content/uploads/Universitas_220_web.pdf (Stand: 22/08/2020).

      Snell-Hornby, Mary/Kadrić, Mira (Hrsg.) (2012). Die Multiminoritätengesellschaft. Beiträge zum Symposium “Sprache, Identität, Translationswissenschaft, 14.–15. Oktober 2011 im Oratorium der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien. Berlin: Saxa.

      The Book of Common Prayer according to the Use of the Church of England together with The Psalter or Psalms of David. 1905. Oxford: OUP.

      Dolmetschen. Macht. Asyl

      Translatorisches Handeln in Konfliktsituationen

      Franz Pöchhacker

      Abstract: Mit Bezug auf den Arbeitsschwerpunkt von Mira Kadrić im Bereich des Gerichts- und Behördendolmetschens setzt sich dieser Beitrag mit den Themen Macht und Konflikt auseinander, denen im Rahmen des juristischen Dolmetschens ein zentraler Stellenwert zukommt. Im Kontext einer Berufungsverhandlung im Asylverfahren wird analysiert, wie die Macht der DolmetscherIn im komplexen institutionellen Handlungsgefüge zur Geltung kommen kann. Anhand der konfliktbeladenen Phase der Überprüfung der Glaubwürdigkeit in der Asylanhörung wird auf diskursanalytischer Basis gezeigt, wie sich eine professionelle DolmetscherIn positioniert und wie sie durch ihr translatorisches und koordinierendes Handeln bedeutenden Einfluss auf den Inhalt und Ablauf der Anhörung und möglicherweise auch auf den Ausgang des Verfahrens nehmen kann.

      1 Einleitung

      Der vorliegende Beitrag, der sich mit einigen Schlüsselthemen im Bereich des Kommunaldolmetschens auseinandersetzt, knüpft in mehrfacher Weise an die dolmetschwissenschaftliche Arbeit von Mira Kadrić an, deren Wirken mit den Beiträgen in diesem Band gewürdigt werden soll. Als Kollegen, der nun schon gut ein Vierteljahrhundert lang in freundschaftlicher Verbundenheit mit ihr Seite an Seite und sogar Tür an Tür im Auf- und Ausbau der Translationswissenschaft an der Universität Wien engagiert ist, fällt mir dieses In-Beziehung-Setzen besonders leicht. Schließlich tBeilen wir nicht nur den selben Dienstort, sondern auch die Konzeption unseres Faches im Sinne des zunächst von und dann gemeinsam mit Mary Snell-Hornby (1995) propagierten Integrated Approach. In diesem kommt dem lange Zeit vernachlässigten Dolmetschen in gesellschaftlichen Institutionen eine zentrale Bedeutung zu, wenn es gilt, für anderssprachige Personen das Recht auf Sprache, gleichberechtigten Zugang und faire Verfahrensabläufe zu gewährleisten. Mira Kadrić hat dies am eigenen Leib in mehreren Rollen erlebt ‒ als Migrantin aus Bosnien ebenso wie als spätere Gerichtsdolmetscherin im Aufnahmeland und in weiterer Folge dann als international renommierte Expertin für die Ausbildung von professionellen DolmetscherInnen für Gerichte und Behörden. Zugleich hat sie ihre lebenspraktische Dolmetscherfahrung eingehend reflektiert und vor allem in ihrer Habilitationsforschung СКАЧАТЬ