Название: Fettnäpfchenführer Weihnachten
Автор: Nadine Luck
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Fettnäpfchenführer
isbn: 9783958893221
isbn:
2
ALLES ZU SEINER ZEIT
KEIN LEBKUCHEN VOR DEM ERSTEN ADVENT
Gurian ist zutiefst dankbar, dass ihm seine Familie aus der Vergangenheit glaubt. Er will ihr so wenig wie möglich zur Last fallen – also versucht er, sich nützlich zu machen. Wenn er Aufgaben übernimmt, wird es auch leichter für ihn sein, den Alltag und die Gepflogenheiten der Menschen so gut wie möglich kennenzulernen. Auf einem Stück Papier hat Annette in ihrer altertümlichen Schrift alles aufgeschrieben, was in Kühlschrank und Speisekammer fehlt – gerne will er das besorgen. Seine Verwandte hat ihm grob erklärt, wie das Einkaufen in ihrer Welt funktioniert. Was für eine mühselige Art und Weise, zu seinen Lebensmitteln zu kommen – in der Zukunft spricht Gurian die Dinge, die er braucht, in den Stimmrekorder, den er von überall aus anquatschen kann. Selbst wenn er gerade spazieren ist, kann er mit seinem persönlichen Lieferdienst kommunizieren. Innerhalb einer Stunde kommen die gewünschten Dinge schließlich per Drohnentransport zu ihm nach Hause – oder in den Park, ins Schwimmbad oder ins Flugmobil; dorthin jedenfalls, wo er seine Einkäufe benötigt.
Als Gurian den sogenannten Supermarkt betritt, muss er sich erst orientieren. Er sieht, wie die anderen Menschen einen großen Metallkorb auf Rädern durch das Geschäft schieben und die Produkte hineinlegen. Das macht er ihnen nach. Alles, was gekauft werden kann, liegt hier zur Ansicht bereit. Bananen, Kiwis, Granatäpfel. Er hofft, Annettes Wünsche richtig entziffert zu haben, und legt die Waren in das komische Korbgefährt.
»Mozzarella«, liest er etwa. Wo soll der denn sein? Wie finden sich die Menschen nur in diesem Geschäft zurecht? Müssen sie hier wirklich alles selbst einsammeln? Gurian braucht lange, bis er alles beisammen hat. Einmal muss er fragen, wo die Hefe ist. Seinen Ausflug aber findet er spannend. Was es alles gibt – und mehr noch: Was es alles nicht gibt! Er findet etwa nur eine kleine Auswahl an Limonaden vor. Seine Lieblingssorte, Limonade mit Ananas-Papaguri-Geschmack, ist leider nicht dabei. Aber klar, in so ein Geschäft passt nicht alles rein, was das Herz begehrt.
Und dann entdeckt er an einem Tisch allerlei Naschwerk, das er so nicht kennt: Zwergenhafte Figuren in roten Mänteln und mit einer zipfeligen Kapuze auf dem Kopf. Vermutlich sind sie aus Schokolade, jedenfalls sind sie in buntes Silberpapier gewickelt. Gurian nimmt die Süßigkeiten für die Kinder mit, da freuen sie sich hoffentlich. »Lebkuchen«, »Dominosteine« und »Vanillekipferl« liest er auf Kekspackungen, auch das kommt mit, für Annette und Jürgen. Wie gerne hätte er der Familie farbewechselnde Schokolade oder sprechende Bonbons geschenkt, aber er konnte all das nicht aus der Zukunft mitnehmen. Dann muss er ihnen halt Mitbringsel aus ihrer eigenen Welt geben.
Wieder daheim packt er stolz seine Einkäufe aus. Freudestrahlend geht er zu Annette und den Kindern in die Küche, um ihnen Lebkuchen, die Kapuzenmännchenschokolade, die sogenannten Vanillekipferl und diese Dominosteine zu überreichen. Er strahlt sie an. »Schaut mal, für euch, für heute Nachmittag, zum Naschen«, sagt er. »Und vielleicht gebt ihr mir auch was ab. Ich bin gespannt, wie das alles schmeckt.«
»Oh, toll«, sagt Sophie strahlend, doch ihre Mama stürzt sofort auf ihn zu.
»Gurian, pack das sofort weg! Das ist jetzt noch nichts«, sagt Annette. »Du willst uns doch nicht die Vorfreude auf den Advent vermiesen?«
»Äh, nein, natürlich nicht. Ich will euch doch nur ein Geschenk machen.« Gurian versteht die Welt nicht mehr. Warum freut Annette sich nicht?
»Pack das alles weg, sofort, das geht echt gar nicht«, zischt sie. »Hättest du nicht einfach Gummibärchen mitbringen können?«
Wieso kann man diese Süßigkeiten jetzt nicht essen? In der Zukunft gibt es bei Lebensmitteln ein Mindesthaltbarkeitsdatum, von einem Zeitpunkt, vor dem etwas nicht gegessen werden darf, hat Gurian noch nie gehört. Verlegen und auch ein bisschen beleidigt nimmt er die Leckereien mit in sein Zimmer und räumt sie unters Bett. Er wollte der Familie doch nur eine Freude machen, warum mögen sie das nicht? Warum gehen diese Lebkuchen und die Schokolade jetzt gar nicht, warum wären Gummibärchen die bessere Wahl gewesen? Und warum werden die Sachen verkauft, wenn sie die Vorfreude auf diesen Advent, wer auch immer das ist, vermiesen können?
O du Peinliche
Kein Dominostein im Oktober, kein Lebkuchen vor dem ersten Advent – Menschen, die Weihnachtstraditionen aufrecht halten, richten sich nach diesem ungeschriebenen Gesetz. Das liegt nicht daran, dass ihnen Lebkuchen, Plätzchen und Dominosteine nicht schmecken würden – im Gegenteil: Ihnen ist das Gebäck besonders wertvoll. Die Naschereien, die oft mit besonderen Gewürzen gespickt sind, erst in der zauberhaften Vorweihnachtszeit zu genießen – das macht diese noch schöner. Die Magie des Advents wäre für traditionsliebende Menschen nicht dieselbe, wenn sie bereits im September und Oktober ständig Weihnachtsgebäck naschen würden. Plätzchen und Printen gehören für sie in die Zeit, in der die Familie an den Adventssonntagen in Vorfreude auf das nahende Weihnachtsfest zusammensitzt.
Die Hollerbachs, die diese Tradition leben, sind keineswegs allein damit: 80 Prozent der Deutschen finden, dass Lebkuchen und Konsorten zu früh im Einzelhandel erhältlich sind. Nur neun Prozent können sich mit dem Verkaufsstart um den meteorologischen Herbstanfang, den 1. September, anfreunden. Das ergab eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov. Doch die Deutschen greifen offenbar trotz ihrer Skepsis beim frühen Lebkuchen zu, denn ein Drittel der Weihnachtsgebäckeinnahmen erzielt der Handel üblicherweise bereits im September, wie Hermann Bühlbecker, Geschäftsführer der Aachener Printen- und Schokoladenfabrik Henry Lambertz, der Zeitung Welt verriet. »Üblicherweise« sagte er, weil es auch vom Wetter abhängt: Mit der Niederschlagsmenge steigt die Lust auf Lebkuchen, bei Sonne bleibt es länger beim Eis-Hunger.
Dennoch, die Feinde des frühen Lebkuchengenusses wollen nicht in Versuchung geführt werden: Durch die Medien geisterte bereits die Forderung, ein Gesetz einzuführen, das den Verkauf erst später im Jahr ermöglicht. Lambertz-Chef Bühlbecker empörte das. Gegenüber der Welt sagte er: »Wo kommen wir denn hin, wenn dem Verbraucher künftig per Gesetz vorgeschrieben wird, wann er welche Produkte kaufen kann? Dann müsste man auch Eis oder Erdbeeren im Winter verbieten. Wir sind hier nicht in der DDR.«
Für Traditionalisten hat es indes einen besonderen Reiz in einer Zeit, in der das ganze Jahr über alles zu haben ist – Spargel im Winter, zur Nachspeise Erdbeeren mit Vanilleeis –, eine Nische für das Außergewöhnliche zu bewahren. Denn: Worauf sollen sich die Menschen überhaupt noch freuen, wenn der Lebkuchen schon ab 1. September auf dem Tisch steht, Weihnachtsdeko die Fenster im Oktober ziert und der Christbaum ab November in den Wohnzimmern nadelt? Wenn alles gleich verfügbar ist und dadurch beliebig wird? Außerdem: Die Gefahr ist groß, dass Menschen, die früh zu naschen beginnen, im Advent keine Lust mehr auf Plätzchen und Kipferl haben.
DIE GESCHICHTE DES LEBKUCHENS
Lebkuchen im Sommer zu essen СКАЧАТЬ