Название: Mein Bruder, Muhammad Ali
Автор: Rahaman Ali
Издательство: Bookwire
Жанр: Сделай Сам
isbn: 9783903183827
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Vorurteile und Rassentrennung waren alltäglich im Leben aller Farbigen in Amerika in den 1960er-Jahren, doch in einigen Gegenden
war es schlimmer als in anderen. Während die schleichenden Auswirkungen des Rassismus in Louisville sicherlich spürbar waren, so gab es in Miami überhaupt kein Entkommen. Dort erstreckte sich die Rassentrennung nicht nur auf Nachtclubs und Cafés, sondern auch auf den Strand: Den weißen Einwohnern Miamis waren die schönsten und saubersten Abschnitte des Strands vorbehalten, farbige Menschen mussten sich mit jenen nahe der Abwasserrohre zufriedengeben und dort schwimmen, oder der Zutritt wurde ihnen überhaupt verweigert. Restaurants, die sich weigerten, Afroamerikaner zu bedienen, waren bis weit in die 1960er-Jahre hinein verbreitet, und als die Rassentrennung an den Schulen offiziell aufgehoben wurde, gab es wilde Proteste vonseiten der lokalen weißen Bevölkerung.
Das war die Stimmung in der Stadt, als mein Bruder 1960 nach Miami zog. Für eine Person mit schwarzer Hautfarbe waren diese Regeln ein fester Bestandteil ihres Lebens in einem angeblich freien Land – selbst für einen Olympiasieger. Zwar ließ sich Muhammad beim Training nicht von den Vorurteilen der anderen behindern – dafür hatte er eine zu dicke Haut –, doch mein Bruder und ich machten von Zeit zu Zeit Bekanntschaft mit der hässlicheren Seite des Landes, wenn wir uns in Miami unter die Leute mischten. Jedes Mal, wenn du aus der Reihe tanztest, war schon jemand zur Stelle, der dich direkt oder hinter deinem Rücken darauf aufmerksam machte, dass du anscheinend vergessen hast, wo du hingehörst. Das traf nicht nur auf die Öffentlichkeit zu. Man zog auch die Aufmerksamkeit der alteingesessenen Institutionen und Behörden im Mainstream-Amerika auf sich. Muhammad sagte zu mir: „Solange unsere Leute ihren Platz in der Gesellschaft nicht verlassen, ist alles okay. Aber wenn sie einmal aus der Reihe tanzen, laufen sie Gefahr, umgebracht zu werden.“
Mit seinem typischen Selbstbewusstsein war Muhammad bereit, dieser Art von Behandlung offen mit Verachtung entgegenzutreten. Als sachkundiger Experte für die Geschichte des Boxsports verfolgte er diese verächtliche Einstellung gegenüber schwarzen Athleten bis zu Jack Johnson zurück, der gejagt und aufgrund der lächerlichen Anschuldigung, eine weiße Frau rechtswidrig über die Bundesstaatsgrenze gebracht zu haben, sogar eingesperrt wurde. Auch kannte er das traurige Schicksal von Joe Louis und Jesse Owens, die ihr ganzes Leben lang vom Finanzamt wegen angeblicher Steuervergehen verfolgt wurden. Und er war sich der Gefahr bewusst, in der sich Jackie Robinson befand, der Morddrohungen erhielt, als er als erster farbiger Spieler in der modernen Major League Baseball spielte.
Jim Brown, den eine langjährige Freundschaft mit Muhammad verband, galt als der böseste und gemeinste Farbige in Amerika und sah sich allen möglichen erfundenen Anschuldigungen, speziell von Frauen, gegenüber. Die Botschaft war eindeutig: Jedes Mal, wenn du als Schwarzer in der amerikanischen Gesellschaft aus der Reihe tanzt, wirst du attackiert und an den Pranger gestellt. Das war definitiv der Fall, auch bei Muhammad, der im Zuge seines Olympiasiegs unendlich viel Aufmerksamkeit in den Medien bekam. Denn genauso wie man meinen Bruder auf seinen Platz verwies, war er als Weltmeister im Schwergewicht ein wichtiges Instrument für politische, wirtschaftliche und andere Interessen der Weißen. Als Muhammad sich dazu entschloss, gegen das System anzukämpfen, wusste er, dass er sich zur Zielscheibe machen würde. Aber so wie jeder andere farbige Sportler auf irgendeine Art und Weise unter Beschuss des amerikanischen Establishments kam, wusste auch er, dass es ihm ebenfalls so ergehen würde, egal was er tat.
Berücksichtigt man all dies, dann ist es vielleicht einfacher zu verstehen, was das Interesse meines Bruders an der Black Power Bewegung – vor allem an der Nation of Islam (NOI) – erweckte. Es ist eine irrige Annahme, dass Malcolm X meinen Bruder zur Nation of Islam gebracht hatte und für die Konversion meines Bruders zum Islam verantwortlich war. Zweifellos hatte Malcolm einen großen Einfluss darauf, doch er war nicht derjenige, der Muhammads Interesse daran erweckte. Es war ein Prediger namens Captain Samuel X Saxon, der meinen Bruder als Erster in die Lehren der Nation of Islam einführte, nachdem er ihn zufällig auf der 2nd Avenue getroffen hatte, bevor Muhammad zu den Olympischen Spielen nach Rom fuhr.
Captain Samuel war der Vorsteher einer Moschee in Miami – ein Ort, den mein Bruder regelmäßig aufsuchte, als er dorthin zog. Es war das erste Mal, dass er den Lehren der Nation of Islam aufmerksam zuhörte, und Miami war der Ort, an dem er langsam erkannte, dass es genau das war, was er in seinem Leben immer gesucht hatte. Zuerst war es sicherlich mehr religiös als politisch motiviert, doch das änderte sich mit der Zeit. Mein Bruder und ich entschieden uns, dieser kontroversen Organisation beizutreten, da Muhammad Teil von etwas sein wollte, Teil einer Bewegung, nicht wegen einer tieferliegenden spirituellen Suche.
Egal was unsere Gründe dafür waren, bei unseren Eltern zu Hause begannen die Alarmglocken zu schrillen, als Muhammad und ich die Lehren der Nation of Islam annahmen. Vater und Mutter waren irritiert, um es milde auszudrücken. Sie waren der Meinung, dass ihre Kinder gute Christen sein sollten, und sie wussten so gut wie nichts über diese neue Religion. Deswegen war es verständlich, dass sie recht aufgebracht darüber waren. Als er älter wurde, hatte Muhammad diese innere Stimme, die ihm sagte, dass da noch etwas Besseres als der Rassismus, den er als junger Boxer erfahren hatte, sein musste – eine Art Licht am Ende des Tunnels. Und obwohl unsere Eltern uns gelehrt hatten, dass Gott für uns sorgen würde, schien der Glaube, mit dem wir aufgewachsen waren, nicht die Lösung zu sein – zumindest nicht für meinen Bruder und mich. Mein Bruder, der schon immer sehr wissbegierig war, verbrachte sein halbes Leben damit, sich die Frage zu stellen, warum Menschen mit dunkler Hautfarbe sich mit diesen Umständen zufriedengeben sollten und warum alles Schwarze mit etwas Negativem assoziiert wurde. Auch im Christentum schien es so zu sein: Alles Gute in der Bibel wurde weiß gemacht – sogar Jesus und Gott wurden als Weiße dargestellt, ungeachtet ihrer Herkunft. Man zeigte uns das Bild des Erlösers als gütigen weißen Mann, und in der Hierarchie des Himmels schien es nirgends einen Platz für andere Hautfarben zu geben. Das war uns zu wenig. Mein Bruder und ich wollten keine mittelmäßigen „Neger“ sein, die sich der Gnade der Christen unterwerfen mussten. Christen, die schon öfters gezeigt hatten, dass sie Farbige als Bürger zweiter Klasse betrachteten. Muhammad konnte und wollte das nicht akzeptieren.
Natürlich waren unsere Eltern nicht die Einzigen, die sich wegen unseres neuen Umfelds Sorgen machten. Die meisten Menschen in den Vereinigten Staaten hatten kein gutes Bild von der Nation of Islam und standen allen, die mit dieser Organisation sympathisierten, sehr skeptisch gegenüber. Selbst unter Farbigen gab es viele, die sich von dieser Bewegung distanzierten. Anfangs merkte keiner, dass wir immer mehr dazu tendierten, Muslime zu werden, denn Muhammad und ich hatten beschlossen, unsere Absicht fürs Erste einmal für uns zu behalten – es war also unser dunkles Geheimnis. Wir waren uns einig, dass wir unseren Übertritt zum muslimischen Glauben dann bekannt geben würden, wenn die Zeit richtig dafür war. Doch vorerst mussten wir aufgrund der Neugier der größtenteils weißen Presse vorsichtig damit umgehen, und auch wegen einiger Leute in unserem engeren Umfeld, die etwas durchsickern hätten lassen können. Wir wussten, dass, wenn wir uns gleich zu erkennen geben würden, die Boxverbände, die öffentliche Meinung und sogar die US-Regierung Muhammad auf seinem Weg zur Boxweltmeisterschaft Probleme bereitet hätten. Muhammad, so entschieden wir, sollte seine Zugehörigkeit so lange geheim halten, bis er den so begehrten Schwergewichtstitel in seinen Händen hielt. Er musste, wie er es selbst ausdrückte, so klug wie eine Schlange, aber arglos wie eine Taube sein.
Je länger dieses Versteckspiel dauerte, umso mehr wurde einigen Personen in unserem engsten Umfeld die Verbindung Muhammads zu den Black Muslims, wie die Organisation auch genannt wurde, bewusst. Als er dann eine Bilanz von 19 Siegen und keine Niederlage sowie 15 Knockouts aufwies, bekam Muhammad die Chance, den amtierenden Schwergewichtsweltmeister Sonny Liston zu fordern – ein Kampf, den er, wie er selbst wusste, viel ernster nehmen musste als alle seine bisherigen Begegnungen. Drei Monate vor dem Kampf gegen Liston verbrachten Muhammad und ich Weihnachten in Angelos Haus, während die Familie im Garten hinter dem СКАЧАТЬ