Название: Auf Asche
Автор: Ronald Reng
Издательство: Bookwire
Жанр: Сделай Сам
isbn: 9783730700297
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Aber wir wussten, worum es hier ging, und wir wussten auch, dass jeder von uns Opfer zu bringen hatte, keine Frage. Außerdem hatten wir keinerlei Angst vor schwierigen Fällen. Das hier war unser Pflaster, wir konnten uns benehmen und man akzeptierte uns hier. Als wir Kanitz’ Mutter aufsuchten und darum baten, dass sie ihren Sohn für das Turnier freistellt, sagte sie uns im 17. Stock eines heruntergekommenen, muffig riechenden und biedergrau versinkenden Hochhausturms noch die warnenden, aber zugleich auch mütterlich warmen Worte: „Der Junge ist irre. Letztens ist der unserem Gerichtsvollzieher hinterhergerannt und hat versucht, ihn auf dem Flur umzugrätschen.” Sie packte seine Sporttasche, als sie schlussendlich schrie: „Fußball bedeutet dem alles, das kann ich Ihnen versichern.”
Jetzt sitzt er dort, sein starrer Blick an die Wand geheftet und die Augen zu dünnen Schlitzen verengt. Er hat sein schlohweißes Haar zum Pferdeschwanz gebunden, diesmal schon früh am Morgen. Er machte das immer, wenn es um Wichtiges ging, und er machte es nicht kurz vor dem Spiel, so wie die anderen Weicheier, sondern direkt vor dem Frühstück, um jedem zu signalisieren, dass er jetzt schon bereit war. Der Junge war voller Adrenalin und kaum noch ansprechbar. Kai Kanitz. Eine Legende.
Es ist immer wieder erstaunlich, auch nach so vielen Jahren noch, zu beobachten, wie unterschiedlich Spieler mit solchen Situationen umgehen. Alessandro Cocco biss in sein Nutella-Brot, öffnete den Mund und zeigte jedem, der es nicht sehen wollte, die matschige Pampe. Alessandro Cocco, auch so ein Name. In ihm kochte italienisches Blut, aber sein Vater hatte sich bereits kurz nach der Geburt wieder zurück nach Sizilien verzogen. Seine Mutter glich diese Kränkung dadurch aus, dass sie vier weitere Männer verschliss, die sie ihrem Sohn jeweils im Rhythmus der Gezeiten als „neuen Papa” vorstellte. Alessandro wusste nur zu gut, mit welch unterschiedlichen Charaktereigenschaften der Mensch gesegnet war. Er konnte einen Gegner bis aufs Blut provozieren, so vertraut waren ihm die unterschiedlichsten Typen, die Extrovertierten wie die stillen Brüter, die aufbrausenden Exoten wie die filigranen Künstler, alle kannte er sie von zuhause.
„Ich fang immer erst an, mich darüber lustig zu machen, wie die spielen”, erklärte er mir einstmals in einer dieser ruhigen Stunden, die Spieler und Trainer gemeinsam bei einer Zigarette verbringen und in denen sie so offen reden wie nur selten. „Wenn das nicht hilft, beleidige ich erst seine Mutter, dann seine Schwester. Ich hab mich auch schon über die Krebserkrankung eines Vaters lustig gemacht, aber nur einmal. Meistens krieg ich dann irgendwann eine gescheuert, und der andere fliegt vom Feld.”
Alessandro war genau die Kategorie Straßenfußballer, die wir brauchten. Eine kleine, fette, italienische Diva, zickig bis zum Umfallen, mit billigem Goldkram behangen, am Ball aber ein Zauberer vor dem Herrn. Er schoss Tore, von deren Schönheit wir noch die Nacht darauf träumten. Nie werde ich vergessen, wie einstmals Kai Kanitz in einem dieser legendären Spiele auf den gegnerischen Torwart losstürmte und wie er versuchte, den Ball links an ihm vorbeizuschlenzen, wie er gnadenlos an einer famosen Parade scheiterte, und wie an der Außenlinie unser Torschrei erstickte. Der Torhüter reagierte wie ein Panther. Er war in Windeseile unten, nahezu unmöglich, aber so reaktionsschnell er sich auch zeigte, er konnte den Ball nur noch nach vorne abklatschen lassen. Alessandro kam aus der Tiefe des Raumes. Er hatte die Situation gerochen, seine Instinkte waren famos, und genau dafür hatten wir ihn geholt. Aber es wäre nicht Alessandro gewesen, wenn er den Ball einfach ins leere Eck geschoben hätte, ihm ging es nie darum, nur ein schlichtes Tor zu erzielen. Jeder seiner Aktionen merkte man an, dass er die Wichtigkeit, die Vehemenz und Brutalität dieser Derbys bis ins Mark verinnerlicht hatte. Auch damals, als er den Ball dem auf dem Boden liegenden Torhüter mit Vollspann aus etwa zwei Metern ins Gesicht schoss, bevor das runde Leder anschließend in einer galanten Flugkurve ins Tor trudelte. Ruhige Augenblicke, die uns wie eine Ewigkeit vorkamen, aber wo wir nur einen Augenblick später orkanartig auf den Torschützen losstürmten, wild und entschlossen, so ausgelassen feiernd wie nur ganz selten in unserem Leben.
Die Tiedtge-Brüder saßen direkt daneben. Zwei Jahre auseinander, zwei verschiedene Väter, selbst bei der Mutter waren wir uns nicht sicher. Während der Größere in ganz alter Manier als Wadenbeißer bekannt war, als Terrier und als Wasserschlepper, der seinen Job unterkühlt und effizient erledigte, der sich in einen Blutrausch spielen konnte, wenn es nötig war, und der die Übersicht behielt, wenn die Mannschaft ihn brauchte, handelte es sich bei dem Kleineren der beiden um den Typ Wühler und Vollstrecker. Einzig und allein sein Alter machte uns zu schaffen. Wir wussten nicht, ob er dieser Belastung standhalten könnte, es war seine erste Finalrunde, und so kaltschnäuzig er sich in den bisherigen Spielen auch zeigte; nicht wenige junge Spieler verlieren im entscheidenden Spiel ihre Nerven und haben sich anschließend nicht mehr unter Kontrolle. Ich streichelte ihm im Vorbeigehen väterlich über den Kopf, er grinste hoch und biss vorfreudig in seine Schnitte. Vielleicht war es gut, dass er sich an einem solchen Tag seine Unbekümmertheit bewahrte. Er würde noch früh genug merken, worum es hier ging.
Der Kollege Singh hatte sich mit einer anderen Bande an einen Tisch in die Ecke begeben. Es waren die schweren Fälle, diejenigen, die schon morgens Beschäftigung brauchten, all jene, die mit schlotternden Beinen aufgestanden waren und die wir ein wenig abkühlen mussten. Philipp Kerkes, Marc Fuhrmann und Kevin Kontermann, das Triumvirat aus Angst, Panik und Adrenalin.
Kerkes war unser Torwart. Er wurde von uns hinter vorgehaltener Hand und mit einem väterlichen Lächeln auf den Lippen „Porno-Kerkes” genannt. Sein Lieblingswitz bestand darin, den Mannschaftskameraden zu jeder Tages- und Nachtzeit sein Geschlechtsteil zu zeigen. Er war der Spaßvogel des Teams, jemand, der die Bande bei Laune halten konnte, aber er hatte zitternde Hände, und wir hatten niemand anderen, den wir ins Tor stellen konnten.
Fuhrmann war Choleriker, jemand, der das Geschrei zum Überleben brauchte, der damit aber auch ein gesamtes Team verunsichern konnte. Nicht selten packte er Mitspieler während hitziger Partien beim Nacken und keifte sie wutschnaubend an. Er rannte wild gestikulierend durch den Strafraum und schrie seinen Kameraden hinterher, warum sie ihn nicht angespielt hätten. Er zeigte ihnen den Vogel und winkte missmutig ab, wenn wir ihn in den letzten Minuten als Kämpfer gebraucht hätten.
Bei Kontermann sah die Lage ein wenig anders aus. Er hatte das Problem, dass er in die Fußstapfen seines Vaters treten musste, und dabei konnten ihm seine kniehohen Buffalos nicht helfen, so gerne er sie auch trug und so viel Spott sie ihm auch einbringen mochten. Vater Kontermann spielte einige Jahre in der Oberliga, das war das Erbe, das es anzutreten galt, und nicht wenige Kinder von großen Fußballern sind an diesen Ansprüchen zerbrochen. „Du wirst sie anführen wie ein Löwe”, flüsterte der Kollege Singh ihm ins Ohr, eine raffinierte Psychologie, nicht zuletzt der Grund, warum ich ihn an meiner Seite haben wollte. „Du wirst sie wie ein Vater übers Feld leiten. Und unter deiner Führung werden wir diesen Titel gewinnen.”
Das war es also, unser Team. Es saß hier im Morgengrauen, starrte an die Wand oder bleckte langsam die Zähne. Es wurde immer fokussierter und zielstrebiger, nur noch wenige Stunden bis zu den Finalen („Finalen” ist irgendwie ein verwirrender Begriff. Geht auch „Endspielen”?). Ich pfiff das Team zusammen, setzte mich zu ihm an den Tisch, wartete einen Augenblick, bis sich alle versammelt hatten, und sagte „Männer …”, bevor ich eine kurze Pause machte und langsam und bedächtig, den Umständen angemessen, anfügte: „Heute ist es an der Zeit, Geschichte zu schreiben СКАЧАТЬ