c. Die interpretative Dimension
Die interpretative oder diskursive Dimension beinhaltet die Art der Präsentation durch Personen, die mit ihren Worten, Schriften oder anderen Kommunikationsformen Rechenschaft ablegen. Bei diesen „Interpretationen“ oder „Diskursen“ handelt es sich zwangsläufig um Auswahlverfahren, da jeder Mensch nur im begrenzten Umfang und subjektiv kommuniziert. Je nach Autor können mehrere Ziele damit verfolgt werden: überzeugen, versöhnen, kritisieren, verurteilen, einen Gedankengang entwickeln … Bei der diskursiven Dimension geht es um das Unterbreiten eines Vorschlags, um die „geteilte Hoffnung“ auf der Basis der grundlegenden Regeln und der Umsetzungen von gestern und heute.
Für den Islam, den Westen und das Christentum ist die interpretative Dimension die Einzigartigkeit jeden Beitrags, bei der aus dem Normativen und dem Effektiven eine Auswahl getroffen wird, um die eigene Sichtweise zu vertreten.
Diese Sichtweisen können natürlich sehr verschieden oder gar diametral entgegengesetzt sein! Da gibt es zum einen die „apologetische“ Sichtweise, die versucht, die Grundlagentexte der eigenen Tradition und der daraus entstandenen Geschichte zu verteidigen. Dann gibt es die „antagonistische“ Sichtweise, die versucht, die Tradition des anderen zu kritisieren. Und schließlich gibt es noch die „akademische“ Sichtweise, die versucht, „neutral“ zu sein (vom lateinischen neuter, weder das eine noch das andere), also weder apologetisch noch antagonistisch. Diese Sichtweise zielt auf ein wertfreies Verständnis ab – auch wenn in Wirklichkeit immer Werte mit hineinspielen und den Blickwinkel beeinflussen, denn eine vollkommene „Neutralität“ gibt es nie.
Diese drei Dimensionen – die normative, die effektive und die interpretative – sind eng miteinander verflochten und können nie völlig voneinander getrennt werden, auch wenn sie unterschieden werden müssen.
Bei Diskussionen entstehen viele Schwierigkeiten, weil diese drei Dimensionen nicht klar unterschieden werden. Nicht selten wird beispielsweise die problematische Umsetzung (das Effektive) des einen den schönen Idealen des anderen (dem Normativen) gegenübergestellt.
Oder um es anders auszudrücken: Es ist wichtig, die normative Dimension einer Weltanschauung mit der normativen Dimension der anderen zu vergleichen, die effektive Dimension einer Tradition mit der effektiven Dimension der anderen, die diskursive der einen mit der diskursiven der anderen.
Wie bereits oben erwähnt, gibt es unzählige Arten, heute ein Muslim zu sein. Und vielen Muslimen sind nur die schönsten Grundlagentexte bekannt. Der Rest wird verleugnet oder außer Acht gelassen. Aber für eine aktive Minderheit müssen die Eroberungsstrategien in Treue zu Mohammed alle in die Tat umgesetzt werden, und zwar von allen Muslimen.
Für diese „integralistischen“ Muslime, d. h. diejenigen, die die gesamte Lehre des Koran und der echten Hadithe leben wollen, sind die „selektiven“ Muslime (die nur einen Teil der Lehre befolgen) schlechte Muslime, die hart bekämpft werden müssen.
Manche Texte des Koran üben scharfe Kritik an den Muslimen selbst, die sich angeblich vom Weg Gottes abwenden, die muslimische Gemeinschaft spalten und die Fitna (Chaos, Unordnung und Verwirrung) herbeiführen. Aus diesem Grund können die Gewalttätigkeiten zwischen Muslimen bisweilen ausgeprägter sein als die Gewalt gegenüber Nicht-Muslimen.
Henri Boulad, syrischer Jesuitenpriester und ehemaliger Direktor der Caritas in Ägypten, hat den heutigen Islam in sechs große Gruppen unterteilt. Seiner Ansicht nach erscheint es angebracht, sechs große Kategorien oder Strömungen („Farben im Regenbogen“) des Islam zu unterscheiden.3
a. Der laizistische und liberale Islam
b. Der mystische Islam der Sufi-Orden
c. Der populäre und kulturelle Islam
d. Der offizielle und staatliche Islam
e. Der radikale Islam der Durchdringung
f. Der radikale revolutionäre Islam
Diese sechs Gruppen lassen sich natürlich nicht ganz klar trennen. Es gibt auch Mischformen.
So haben in der Vergangenheit auch Sufi-Bruderschaften (wie die Naqschbandiya) zu den Waffen gegriffen. Dasselbe gilt für den Emir Abd el-Kader (1808–1883), der gleichzeitig ein großer islamischer Mystiker und gefürchteter militärischer Anführer war, der im Namen des Dschihad* gegen die französische Invasion in Algerien gekämpft hat. Es ist kein Widerspruch, wenn Muslime, die die Scharia* (oder das islamische Recht) auf die gesamte Gesellschaft ausdehnen wollen, gleichzeitig von mystischer Poesie geprägt sind.
Diese sechs Strömungen können auf einer Achse mit zwei Extremen dargestellt werden: A. die Trennung zwischen Religion und Politik und Z. die Unterwerfung der Politik unter die „islamische Offenbarung“.
1. Der laizistische und liberale Islam
Der laizistische Islam erkennt eine klare Trennung zwischen weltlicher und geistlicher Macht an. Mustafa Kemal Atatürk (1881–1938), der erste Präsident der Republik Türkei, war ein berühmter und glühender Verteidiger dieser Linie.
„Atatürk [war] nicht zufrieden damit, das Sultanat abzuschaffen, das im kollektiven Bewusstsein in den heiligen Rang des Kalifats erhoben worden war (woraus sich der Protest der Ulema der Al-Azhar-Universität in Kairo und die Erschütterung, die die Aktion Atatürks im muslimischen Bewusstsein auslöste, erklären), [er] griff [sogar] das semiologische Universum der Muslime an, indem er das arabische Alphabet durch das lateinische Alphabet, den Turban und den Fes durch den Hut und die Schari’a durch das Schweizer Zivilrecht ersetzte.“
Mohammed Arkoun4
Seit einigen Jahrzehnten gibt es zahlreiche muslimische Denker, die sich bemühen, Abstand von einem buchstabengläubigen, traditionalistischen Islam zu nehmen, der die Grundlagentexte nicht in ihrem historischen Zusammenhang auslegt. Sie versuchen einen „liberalen“ oder „reformierten“ Islam zu fördern, in dem die Werte der modernen Welt voll integriert sind. In seinem Buch Islam et liberté. Le malentendu historique [Islam und Freiheit. Ein historisches Missverständnis] hält Mohamed Charfi fest:
„[…] in der muslimischen Welt hat der religiöse Fanatismus in den letzten Jahren mehr Leiden und Opfer versursacht als anderswo […] Die Scharia ist ein Musterbeispiel für Frauenfeindlichkeit, ihr Strafrecht unmenschlich und ihre Regeln eine grobe Verletzung der Gewissensfreiheit. […] Gott ist nicht fanatisch, aber die Ulemas (Religionsgelehrten) von gestern und heute sind es […] Die Juden und Christen haben diese schändliche Regel einer Ein-Weg-Wahl abgeschafft [wonach man die Religion zwar annehmen, aber nicht mehr verlassen kann], während der Islam sie wegen seiner Theologen und Fundamentalisten immer noch aufrechterhält.“5 СКАЧАТЬ