Название: TEXT + KRITIK 155 - Herta Müller
Автор: Группа авторов
Издательство: Bookwire
Жанр: Документальная литература
Серия: TEXT+KRITIK
isbn: 9783967074192
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Im Zentrum von Müllers Romanwerk stehen drei Romane: »Der Fuchs war damals schon der Jäger« (1992)2, »Herztier« (1994)3 und »Heute wäre ich mir lieber nicht begegnet« (1997). Sie erschienen in den 1990er Jahren nach der Übersiedlung der Autorin in die BRD (1987) und nach dem Sturz Ceauşescus (1989) in kurzer Folge innerhalb von fünf Jahren. Die Werke verbindet der thematische Fokus auf Ort und Zeit der Ceauşescu-Diktatur in Rumänien sowie das autofiktionale Spannungsverhältnis der Stoffe zu Ereignissen im Leben der Autorin.4 Stärker als Thema, politisch-historischer Kontext und Entstehungsumstände eint die Texte indes die intensive und unmittelbare Bildhaftigkeit, die »spezifische poetisch-stilistische Technik«5 des Erzählens. Sie bewirkt unter anderem, dass Ereignisse als Erfahrungen, Stimmungen als Wahrnehmungen und Wirklichkeit, auch die brutalste und bedrängendste, als fantastisch beseelte Blickerwiderung der Realität auf ihren Betrachter in Erscheinung treten. Das gibt der Bedrohung und Überwachung durch die Securitate, den Erfahrungen von Hunger, Mangel und Enge, der Enttäuschung und dem Verrat durch Freunde eine über den konkreten Einzelfall hinausweisende existenziell beunruhigende, unheimliche Tiefe; und es zeigt die Sprache des erzählenden Ichs zugleich auf der Höhe ihrer Ausdrucks- und Handlungsmacht – als Souverän einer Fantasie, die paradoxerweise beides sein kann: Gegenpart und Katalysator der Brutalität der Außenwelt, Erkenntnisinstrument und Waffe der Erzählstimme. Sie richtet sich auch gegen sie selbst, denn die Sprache, die eine beängstigende und vom Ich nicht zu kontrollierende Wirklichkeit ›in den Griff bekommt‹, entwirft ja neue, ihrerseits beängstigende Bilder mit Eigenleben.
Das »rhizomatische Geflecht wiederkehrender Bilder, Themen und Motive«6 hält nicht nur die einzelnen achronologisch und zum Teil elliptisch strukturierten Romane zusammen, es verbindet sie auch untereinander. So finden sich zahlreiche intratextuelle Bezüge von Zitaten, Ding-Motiven, Farbsymbolik, Plotähnlichkeiten über Metaphern und ähnlich charakterisierte Figuren (etwa zwischen den Erzählungen »Niederungen«7 und »Herztier« oder zwischen »Herztier« und den Essays »Hunger und Seide«8).9 Das bewirkt aber keinesfalls, dass sich die Romane miteinander zu einem ›Kosmos‹ verbänden – dazu sind die Welten zu sehr in sich abgeschlossen und in ihrer Raumatmosphäre klaustrophobisch konnotiert. Insofern sind es auch weniger die topografischen Übereinstimmungen, die auf ein und denselben Handlungsort verweisen, als vielmehr die Konnotationen der Räume in ihrer politischen Bedeutung und psychoästhetischen Wirkung: Der Umstand, dass in allen Romanen der Fluss, manchmal auch explizit die Donau, vorkommt, verweist zwar auf die geografische Lage Rumäniens und hat insofern einen außerliterarischen Referenten in der politischen Topografie Osteuropas. Relevanter scheint der Fluss (Donau) indes als Teil des Motiv-, Metaphern-, und Metonymienreservoirs, das als typisches Element der Autorinnenstilistik konkret, bildhaft, intra- und intertextuell wirkt, wenn der Fluss als Grenze, Ort der Überschreitung und erhofften Freiheit und zugleich der Gefahr, des Todes (durch die Grenztruppen) und dessen Verschleierung sowie des Abschieds gesehen und verstanden wird. Intratextualität bewirkt meines Erachtens bei Müller keine Wiedererkennungseffekte, die dazu einladen, lesend die Orte, Ereignisse und Figuren in einen größeren Erzählzusammenhang im Sinne einer rumäniendeutschen Saga oder Trilogie10 einzuordnen. Vielmehr bewirken Ähnlichkeit oder gar Wiederholung eine Affirmation der schon geschulten Wahrnehmung, eine Förderung der abgründig skeptischen Lektürehaltung, der Schärfung von Ambivalenz-Sinn und Mehrdeutigkeits-Toleranz. Insofern verstärken die Romane einander zu einer Art poetischer ›bubble‹, im Sinne jener »filter bubbles«, die eine Wahrnehmungssphäre konstituieren und durch Bestätigung abgrenzen, aus der es kein Entkommen gibt, weil das Individuum sie mitnimmt, wohin auch immer es geht.
Die Mehrdeutigkeit der zuweilen surreal anmutenden Sprache und der ihr innewohnenden kreativen Fantasie kennzeichnet, bedingt durch die Wahl von Ich-Erzählerinnen (»Herztier«, »Heute wär ich mir …«) beziehungsweise personale Erzählweise (»Der Fuchs …«), die Poetik der Romane ebenso wie ihre Hauptfiguren, in allen drei Fällen Frauen um die 30: die Lehrerin Adina (»Der Fuchs …«), eine Studentin und spätere Übersetzerin in einer Fabrik (»Herztier«) sowie eine Arbeiterin in einer Konservenfabrik (»Heute wär ich mir …«). Ihr Erlebensmodus, das Bildreservoir ihrer Beschreibungen und die poetischen Funktionsweisen ihrer Realitätsverarbeitung verweisen, unabhängig von Herkunft, Bildungsgrad und Beruf der Figuren, auf eine ähnliche Fantasiebegabung. Das erklärt sich nicht allein mit dem politisch regulierten Zugang zu Studium oder Lektüre, der über Bildungsbiografien und akademische Chancen entschied, sondern mehr noch über zwei andere Implikationen: zum einen die Bildmacht der rumänischen Sprache, die das Deutsch der rumäniendeutschen Figuren umgibt und grundiert und sich auch in Redewendungen, Märchen und Sagen der Banater Dorfbevölkerung niederschlägt; zum anderen in der identitätsstiftenden und -bewahrenden Macht, die Müller der Fantasie und dem durch sie geprägten, die Objekt-Welt beseelenden Blick zuspricht11 und die sie als eine der frühesten eigenen Kindheitserfahrungen schildert.12
Alle Protagonistinnen stehen am Anfang ihrer Berufsbiografie; sie verbindet die oft dörfliche oder kleinstädtische Herkunft mit dem Leben in größeren Städten, das Ausbruch aus der Enge, Freiheit, Urbanität und Aufbruch in ein eigenes Erwachsenenleben jenseits der familiären Herkunft assoziiert. Dieses erweist sich aber bald, in den Institutionen der Ausbildung, in Schule, Universität, im Arbeitsleben von Fabriken und Büros sowie im öffentlichem Leben, als ebenso von der Mangelwirtschaft gekennzeichnet wie das Landleben; zudem ist es noch vielfältiger und engmaschiger kontrolliert, die staatliche Repression in Propaganda, Beobachtung, Wohnungsüberwachung, Verhören und Verhaftungen allpräsent. Die Jugend der Protagonistinnen verstärkt diesen Befund, weil er – angesichts ihrer Erwartungen – nicht nur als Gegenwartsdiagnose in Erscheinung tritt, sondern auch die Zukunft des Landes zu bestimmen scheint, wie es der Lehrerin Adina etwa an den Erziehungsmethoden und am Anpassungsdruck im staatlichen Schulsystem beim Blick auf die Schüler vor Augen steht: »Im Gesicht des Kindes stand ein Alter, das die Kinderstimme nicht ertrug. Das Gesicht des Kindes roch nach abgestandenem Obst. / Es war der Geruch alter Frauen (…). / Als das Kind zwischen den anderen Kindern im Schulhof stand, war der Fleck an seiner Wange der Griff der Einsamkeit. Er dehnte sich aus, denn über die Pappeln fiel schiefes Licht.«13
Die Aussichtslosigkeit einer über die Kinder in die Zukunft verstetigten Gegenwart und die mit dieser Langzeitperspektive verbundene Trostlosigkeit und Bedrückung sind zum einen ein stilistischer Effekt der auf Verstetigung, Persistenz und Wiederholung СКАЧАТЬ