Название: TEXT + KRITIK 155 - Herta Müller
Автор: Группа авторов
Издательство: Bookwire
Жанр: Документальная литература
Серия: TEXT+KRITIK
isbn: 9783967074192
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In dieser frühen Erzählung gelingt es Herta Müller, »die Spanne« zwischen der Konfiguration der totalitären Ordnung und der »erfundenen Wahrnehmung«,39 die subversiv und de-konfigurierend wirkt, kenntlich zu machen: die Faktur der Gewalt wird ebenso offengelegt wie die Tatsache, dass sie keinen Geltungsanspruch erheben kann und am Ende wie ein Trugbild zerrinnt.
Der Kontrast des Gehalts der Erzählung zum Bekenntnis im Editorial, die »Entwicklung des Geistes der Freundschaft und der Verbrüderung zwischen allen Werktätigen, ohne Unterschied der Nationalität, für die Festigung der Einheit unseres ganzen Volkes« als »ständige Aufgabe«40 anzunehmen, könnte kaum deutlicher sein. Die Redaktion beschwört den »Einklang mit der gesamten Presse«41 – Herta Müller entlarvt ihn als totalitären Gleichtakt; die Redaktion bekennt sich zur »Tradition im besten Sinne der humanistischen und kommunistischen Tätigkeit der Journalisten und Schriftsteller«42 – Herta Müller verweigert sich nicht nur affirmativer Sinnstiftung, sondern zersetzt ihren Anspruch und setzt individuelle Eigenlogik dagegen.
Die Erzählung »Inge« wurde im Band »Niederungen«, der 1982 im Kriterion Verlag in Bukarest erschien, wieder abgedruckt. Zwar wurden der jungen Schriftstellerin Preise und Ehrungen zuteil, doch beim Geheimdienst gingen bereits harsche Anklagen ein: »Kritik und noch mehr Kritik. Diese Kritik ist so destruktiv, dass man sich fragen muss, was denn der Zweck dieser Texte sein soll (ACNSAS, FI, Akte 233477, Bd. 1, 5).«43 Langjähriger Chefredakteur der »Neuen Literatur« war von 1969 bis 1984 Nikolaus Berwanger, auch er ein banatdeutscher Schriftsteller, der sich 1984 für die Flucht in die Bundesrepublik entschied und dort ab 1987 im Marbacher Literaturarchiv arbeitete; er ließ durchaus kritische Untertöne jüngerer Schriftstellerinnen und Schriftsteller zu. Das Personengeflecht von Redakteuren, Zensoren, Parteifunktionären, die alle als Spitzel infrage kamen, steigerte den Druck auf die Schriftstellerin erheblich. Interessanterweise wurde »Inge« aber nicht in die Ausgabe der »Niederungen« aufgenommen, die 1984 im Rotbuch Verlag erschien. Wilhelm Solms vermutete schon 1990, dass Herta Müllers Erzählungen gerade dort, wo sie ihre höchste »poetische Intensität« entfalten, »kaum zu ertragen sind« für die bundesdeutschen Leserinnen und Leser, und dass sie deshalb vom Lektorat nicht in die Ausgabe aufgenommen wurden. »Die ›eingefrorenen Bilder‹ aus dem Banater Dorf: die Bilder von den Schneemännern mit den ›Augen voller Gewalt‹, von den vor Gelbsucht fiebernden Pappeln und von den alten alleingelassenen Frauen – ›die leeren knochigen Kopftücher ohne Gesichter‹ – bleiben im Gedächtnis haften.«44
Schluss
Den frühen Erzählungen und dem ersten Roman Herta Müllers ist gemeinsam, dass sie das Ineinandergreifen privater, staatlicher und geheimdienstlicher Gewalt offenlegen. An den Verletzungen der einzelnen Figuren ist das Ausmaß an Brutalität, das ihnen zugestoßen ist oder von ihnen ausgeübt wurde, abzulesen. Die Erzählungen verdeutlichen, wie die Traumata von Generation zu Generation weitergegeben werden – auch an die Nachfahren von Tätern; viele der Figuren werden, ob absichtlich oder wider Willen, zu Mitläufern, Vollstreckern oder Komplizen. Sowohl in der deutschen Dorfgemeinschaft als auch in der sozialistischen Gesellschaft steht manifeste und latente Gewalt in einem Spannungsverhältnis zur Selbstbeschreibung, in der sie jeweils vollständig eskamotiert wird. So wie die Staatspropaganda Gesellschaft und Familie als intakte Solidargemeinschaften entwirft, betrachtet sich die banatschwäbische Gemeinschaft als anderen überlegen aufgrund überlieferter und geteilter Werte wie Reinheit, Moral, Sitte, Zusammenhalt und Katholizismus. In der Bundesrepublik sind es soziale Ungleichheiten bis hin ins Prostitutions- und Obdachlosigkeitsmilieu, Vereinzelung in Kapitalismus-Rollen (Konsument, Arbeitnehmer u. a.), die zur erzwungenen Selbstentfremdung führen, wie insbesondere in »Reisende auf einem Bein« deutlich wird. Alle Texte plädieren für ein individuelles Recht auf Übergänge, das in Müllers Poetik weit über dem Anspruch der Gesellschaften auf Rollenkonformität rangiert. Kenntlich gemacht und ad absurdum geführt werden totalitäre Interdependenz von Sprachen, Institutionen, Organisationen, Werten, Selbstbeschreibungen, Überwachungsapparaten, Automatismen und Routinen sowie die Einschüchterung und Gleichschaltung der Einzelnen, mit dem Effekt, dass die Einzelnen ihrer Individualität – und das heißt: der Freiheit, gedanklich und politisch über-zu-gehen – beraubt werden.
Herta Müller (de)konfiguriert in ihrem Frühwerk unterschiedliche Erscheinungsformen von Gewalt, indem sie die Natur des Totalitätsanspruchs in seiner jeweils spezifischen Faktur offenlegt und indem sie im Namen individueller Ansprüche auf Selbstbestimmung aufzeigt, dass er eigentlich gar keinen Geltungsanspruch erheben dürfte – erstens nicht, weil die Einzelnen dadurch verstümmelt werden, zweitens nicht, weil sie letztlich auf illegitimen Macht- und Herrschaftsansprüchen beruhen und sonst in nichts begründet sind. Schon Michel Foucault hatte vorgeschlagen, die Wirkung des gesamten Relationenensembles im Raum zu bestimmen,45 welches die Macht ausmacht; mit ihrem ›Panoptikum der Todesarten‹ tut Herta Müller genau dies, aber ihr gelingt gleichzeitig eine ironische Negation dieses Panoptikums.
1 Ein Überblick des Frühwerks und der Reaktionen darauf bietet bereits Norbert Otto Eke: »Herta Müllers Werk im Spiegel der Kritik«, in: Ders. (Hg.): »Die erfundene Wahrnehmung: Annäherung an Herta Müller«, Paderborn 1991, S. 107–130. Vgl. auch Dagmar Ekes Auswahlbibliografie von 1972 bis 1990 in diesem Band sowie die ausführliche Beschreibung des Frühwerks bei Julia Müller: »Sprachtakt. Herta Müllers literarischer Darstellungsstil«, Köln 2014, insb. S. 9–178. — 2 Eine vollständige Übersicht der in den vier genannten Bänden enthaltenen Erzählungen sowie der gesamten weiteren Kurzprosa Müllers, die in Rumänien und in Deutschland von 1978 bis 1989 erschien, findet sich bei Julia Müller: »Sprachtakt«, a. a. O., S. 310–315. — 3 Friedmar Apel: »Schreiben, Trennen. Zur Poetik des eigensinnigen Blicks bei Herta Müller«, in: Eke (Hg.): »Die erfundene Wahrnehmung«, a. a. O., S. 22–31, insb. S. 27 ff. — 4 Eingehend dazu: Ralf Köhnen: »Terror und Spiel. Der autofiktionale Impuls in den frühen Texten Herta Müllers«, in: TEXT+KRITIK »Herta Müller«, H. 155 (2002), S. 18–29. — 5 Iulia-Karin Patrut: »Deutsch-rumänische Sprachinterferenzen«, in: Norbert Otto Eke (Hg.): »Herta Müller Handbuch«, Stuttgart 2017, S. 124–129. — 6 Herta Müller: »Barfüßiger Februar. Prosa«, Berlin 1987, S. 105. — 7 Antje Janssen-Zimmermann: »›Überall, wo man den Tod gesehen hat, ist man ein bißchen wie zuhaus‹. Schreiben nach Auschwitz – Zu einer Erzählung Herta Müllers«, in: »literatur für leser«, 1991, H. 4, S. 237–249. — 8 Herta Müller: »Bei uns in Deutschland«, in: Dies.: »Der König verneigt sich und tötet«, München 2003, S. 176–185, hier S. 184. — СКАЧАТЬ