Название: TEXT + KRITIK 155 - Herta Müller
Автор: Группа авторов
Издательство: Bookwire
Жанр: Документальная литература
Серия: TEXT+KRITIK
isbn: 9783967074192
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Die Trauer um die Tote wiederum wird kontaminiert von der Enttäuschung der Erzählerin, verraten worden zu sein; die Möglichkeit sich zu distanzieren oder (mit Verachtung) abzuwenden, wird durch die endgültige Abwendung der Freundin im Tod verunmöglicht, das moralische Urteil über sie durch das Mitgefühl mit ihrem Leiden und die Trauer über ihren Verlust durchsetzt. Insofern wirkt der Verrat zerstörerischer als der Tod, weil er nicht nur Verlust bedeutet, sondern nachträglich auch die Integrität der Freundin, die Freundschaft als Wert und die Urteilsfähigkeit der Verratenen infrage stellt oder auslöscht, und so sogar die Pietät der Trauer vergiftet.
Auch andere Konstellationen von Verrat durch Geliebte, Ehepartner und Freunde insistieren auf der Ambivalenz, einerseits als Verunsicherung, wem zu trauen ist und wie die Wirklichkeit zu verstehen ist. Diese hat, unter den Vorzeichen der Diktatur, längst die Unschuld des reinen und kontingenten So-Seins verloren und ist, als Zivilisation wie als Natur, nur noch als Zeichensystem zu deuten; wer in ihr überleben will, muss in ständiger Wachsamkeit Pappeln (in »Der Fuchs …«) ebenso ›lesen‹ wie Blicke und Spuren fremden Eindringens in die eigene Wohnung. Insofern kennzeichnet Ambivalenz nicht nur die Außenwelt respektive deren Wahrnehmung, sondern andererseits auch die Individuen und deren Fähigkeit zu vertrauen. Freundschaft wie Vertrauen erscheinen angesichts der Erfahrungen eher eine Gunst auf Zeit als eine verlässliche Zukunftsperspektive. Das betrifft nicht nur die Freunde, Liebhaber oder Ehepartner, sondern zentral die Erzählerinnen selbst, deren Fähigkeit zu vertrauen grundsätzlich unterminiert wird. Wie gefeit sie ihrerseits davor sind, Verrat zu begehen, ist eine in der Narration stetig mitlaufende Frage, und der vermutlich aus einem abgewandelten Sprichwort entstandene Romantitel »Der Fuchs war damals schon der Jäger« zitiert nicht nur die Doppelgesichtigkeit von (vermeintlicher) Beute und Jäger, sondern verweist auch auf Tradition oder Naturgesetzlichkeit dieses Umstands und die Dauer der Täuschung. Alle Ceauşescu-Romane thematisieren die Täuschung und die Gefahr des Verrats so latent implizit wie strukturell omnipräsent: In »Der Fuchs …« wird ein Fuchsfell in der Wohnung der Erzählerin in ihrer Abwesenheit immer weiter zerschnitten, um sie einzuschüchtern; in »Herztier« illustrieren die Lebenswege der vier Hauptfiguren, die durch die gemeinsame Lektüre des Tagebuchs einer Selbstmörderin in ihrer Haltung gegenüber dem Staat verbunden sind, die zerstörerische Macht der Securitate für die Biografie der Einzelnen und für den Bestand der Freundschaft. Selbst das vermeintlich gute Ende für die Protagonistin und den Freund Edgar steht wie ihr weiteres Leben und das Zeugnis,22 das sie (auch mit dem Roman) ablegen, unter dem Zeichen der ›Überlebensschuld‹: »Wenn wir schweigen, werden wir unangenehm (…), wenn wir reden, werden wir lächerlich.«23 In »Heute wär ich mir lieber nicht begegnet« schließlich strukturiert die Straßenbahnfahrt der Hauptfigur zu ihren Verhören durch die Securitate den Roman und bringt die Erzählerin, unterbrochen von Erinnerungen und Reflexionen, der Gefahr des Verhörs und der Gefahr, im Verhör (sich) selbst zu verraten, beständig näher. Das scheint deshalb wichtig zu betonen, um den epischen Zug der Texte, ihre auf ›Was-Spannung‹ angelegte Handlung, die Welthaltigkeit transportiert und auch rein stofflich interessierte Leser*innen anspricht, hervorzuheben, obgleich in Rezeption und Forschung häufig das Bildmächtige, Poetische, oft Surreale der Metaphorik und die nahezu traumlogikhaften Handlungsabläufe betont werden.
Die in der konkreten Situation der Diktatur geschulte Wahrnehmung ist ebenso Überlebensinstinkt wie poetische Gabe; die Mehrdeutigkeit der Bilder und der Sprache sind Gefahr und Geschenk – das führen die Romane auf engstem Raum vor, ohne es weitschweifig explizieren zu müssen.
Zur Dichte des Verfahrens – wie zum Raumgefühl einer begrenzten, beengten und überwachten Welt – tragen dabei wesentlich zwei Eigenarten der Müller’schen Erzählweise bei: die interne Fokalisierung, das heißt die Beschränkung der Sichtweise und des mitgeteilten Weltwissens auf die Perspektive, oft sogar auf das konkrete Gesichtsfeld einer Figur, und die selbstbewusste Lakonie, mit der die Erzählstimme diese Sicht der Welt kommentar- und erläuterungsfrei vorträgt, häufig in Form einer Metapher, die ein tertium comparationis voraussetzt und impliziert, und eben nicht als explizierender Vergleich. Nur der Verzicht auf eine im traditionellen Sinne ›allwissende‹ Erzählinstanz oder eine Erzählstimme mit Überblick ermöglicht dem Leser eine Immersion in die erzählte Welt, bei der er Hilflosigkeit, Desorientierung und Einschüchterung der Figuren nachempfinden kann, indem er ihre notwendig beschränkte Sichtweise teilt und ähnlich wie sie darauf angewiesen ist, alle Beobachtungen als Zeichen zu deuten und zum Verständnis der Welt und der eigenen Orientierung in ihr zu nutzen – denn es ist ja gerade die behauptete Allmacht des Kontrollstaates, sein »Wir wissen alles«,24 dem die Protagonisten trotzen. Insofern ist die Wahl der Fokalisierung auch ein Bekenntnis zu den Opfern und eine Parteinahme der Autorin für sie. Die Gefahren der in bezugs- und bedeutungsreiche Details zersplitterten Weltsicht und ihre Nähe zur Paranoia liegen auf der Hand; ebenso gewichtig sind aber der poetische Mehrwert dieses ›fremd(geworden)en Blicks‹25 und seine hermeneutisch-epistemologische Bedeutung.
Wie sich perspektivisches Erzählen, kriminalistische Spannung, Metaphorik und Erkenntnistheorie in Müllers Romanen wechselseitig bedingen und plausibilisieren, lässt sich am Umgang mit Ding-Objekten ersehen: Alle Figuren, Orte oder Gegebenheiten werden aus der Nahperspektive eines erlebenden Ichs präsentiert, also weitgehend erklärungslos, und in der Regel auch nahezu privatsprachlich benannt, mit Spitz- oder Übernamen, sofern es sich um nähere Bekannte handelt, oder mit Vornamen, aber nie mit vollständigen Namensbezeichnungen aus Vor- und Nachnamen. Manche auch für die Handlung wichtige Figuren – etwa der Mann, der den Selbstmord der schwangeren Lola (in »Herztier«) zu verantworten hat – bleiben sogar namenlos, was sich aus dem begrenzten (und Täuschungen unterliegenden) Wissenshorizont der Erzählstimme erklärt. Statt über Namen werden die Figuren über ein Detail ihrer Kleidung (Hemd, Anzug oder Sonnenbrille),26 eine physiognomische Besonderheit oder ihre äußere Erscheinung (der Zwerg, der Angler),27 ihren Beruf (Friseur, Schneiderin, Pförtner, Direktor, Vorarbeiter)28 oder ein Ding-Objekt (z. B. das Motorrad in »Heute wär ich mir …«) von anderen Figuren unterscheidbar gemacht. Das erlaubt eine (relative) Individuation innerhalb einer als sowohl gleichförmig als auch anonym wahrgenommenen menschlichen Umwelt: »sie sind wiedererkennbar, ohne in ihrer Identität bekannt zu werden«.29 Die Markierung bleibt auch innerhalb der figurenperspektivischen Wahrnehmung (und Erzählweise) insofern schlüssig und glaubwürdig, als sie über visuelle Merkmale motiviert ist, also kein Mehr- oder Hintergrundwissen voraussetzt, das ja nur über eine Übersicht (oder eine externe, über- oder interpersonelle Form der Fokalisierung) möglich wäre. Zugleich mit der Kenntlichmachung übernimmt das Ding-Symbol einerseits die Funktion, die Figur (metaphorisch) zu charakterisieren (per Anzug als korrekten Angestellten oder per Motorrad als jugendlichen Draufgänger) und metonymisch als Teil seines Körpers oder Besitztums für den oft namenlosen oder nur mit dem Vornamen Benannten einzutreten – in der Gedankenwelt der Erzählerin und in ihrer Erzählung. Zu dieser doppelten Stellvertretungsfunktion tritt oft innerhalb der Romanhandlung eine – quasi kriminalistische – Indizienfunktion, wenn am (Wieder-)Erkennen von Hemd/Kleidungsdetail oder Motorrad der Träger/Besitzer СКАЧАТЬ