Название: TEXT + KRITIK 155 - Herta Müller
Автор: Группа авторов
Издательство: Bookwire
Жанр: Документальная литература
Серия: TEXT+KRITIK
isbn: 9783967074192
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Die Erzählung offenbart, dass die Hauptgestalt unterschiedlichen Gewaltstrukturen ausgesetzt ist – marschierenden Soldaten, Milizmännern, einem Beamtenapparat, dessen Allmacht willkürlich ausagiert wird, entsolidarisierten Mitmenschen und einer Amtssprache, die die Welt in diesem Geist kartiert. Der Text verhält sich zugleich aber auch widerständig gegen diese Gewalt, zum einen, indem er deren brutale Absurdität entlarvt, zum anderen, indem eine eigenlogische Wahrnehmung willkürliche Schnitte durch Bilder und Wörter vollzieht und Inges individuelle, nicht mehr im Dienst des Totalitarismus stehende Selbst- und Weltsicht zum Vorschein bringt.28
Inge tritt vor einen Inspektor, dessen wirrer – und deshalb keinen Widerspruch duldender – Monolog darauf hinausläuft, dass sie entlassen wird, weil sie als studierte Lehrerin nicht als Übersetzerin in einem Maschinenbauunternehmen eingesetzt werden kann. Die Begründung ist fadenscheinig, weil das Lehramtsstudium in Rumänien nicht unüblich als Qualifikation für die Übersetzerlaufbahn war.
Herta Müller hatte selbst eine solche Arbeitsstelle infolge ihrer Weigerung, mit dem Geheimdienst zusammenzuarbeiten, verloren, und dadurch traf das Stigma der ›Asozialität‹ und des ›Parasitentums‹, das im Editorial der Zeitschrift, in der ihre Erzählung erschien, beschworen wurde, aus Sicht von Partei und Geheimdienst auf die Autorin zu. »Inge« steht in einem geradezu grotesken Verhältnis zum Editorial, denn dieses Stigma wird als Folge der Machtausübung von Partei und Geheimdienst mit ihrem Verwaltungs- und Vollstreckungsapparat entlarvt. Als missliebig empfundene Person konnte sie entlassen – da der Staat der einzige Arbeitgeber war – und sozial vernichtet werden, indem sie als unsolidarische ›Asoziale‹ gebrandmarkt wurde.
Logik hat der Ministerialvertreter gar nicht nötig: »Also, wie gesagt: da demnach dennoch das Maschinenbauministerium weil Sie, nachdem, seit der Betrieb, während dieser Zeit eine Stelle, sondern, oder Ihnen angehört, und das Maschinenbauministerium leider währenddessen, also das Unterrichtsministerium deshalb durch den Betrieb (…) seither, demnach auf keinen Fall zuständig ist.«29
Die Poetik, aus der 1993, wenige Jahre nach der Flucht in die Bundesrepublik, der erste Collagenband mit dem Untertitel »Vom Weggehen und Ausscheren« hervorgehen sollte, kündigt sich hier schon an: Die Brüche und Lücken im Sprachteppich des Beamten sind das Entscheidende. Sie bringen die Leser auf die Spur, auf die es ankommt. Realistisch anmutende Auszüge aus einer Ansprache werden so miteinander verschnitten, dass Sinnangebote jenseits logisch nachvollziehbarer Kausalitäten und syntaktischer Regeln entstehen, indem beim Lesen von einem Schnitt zum nächsten geglitten und so eine Spur erkennbar wird, die systemimmanente Gewalt offenlegt; in dieser ironischen Fusion von Realismus und Dada liegt eine der Charakteristiken von Herta Müllers Poetik. In diesem Beispiel führt die Spur auf die Willkür, Selbstgefälligkeit, Rücksichtslosigkeit, aber auch auf die Allmacht des leitenden Beamten, der ministerielle Zuständigkeiten und Gewaltenteilung ebenso ignorieren, wie er die grammatikalischen Regeln missachten und dabei über die Existenz Inges entscheiden kann. Noch deutlicher wird dieser Zug von Müllers Poetik in den Reflexionen über das Collagieren, die Inge in »Reisende auf einem Bein« anstellt. Zudem lässt sich hier schon der Ansatz ausmachen, den totalitären Anordnungen von Sinn – einschließlich der normierten Verhaltens- und Redeweisen – einen eigenen »Irrlauf im Kopf«30 entgegenzusetzen. »Aus dem, was man erlebt hat, sucht sich der Zeigefinger im Kopf auch beim Schreiben die Wahrnehmung aus, die sich erfindet.«31 Dieser ästhetische, auf Sinneswahrnehmungen basierende Widerstand als Verfahren der Dekonfiguration totalitärer Macht gehört zu den Konstanten in Herta Müllers Werk. Er ist grundsätzlich ironischer Natur, denn auf den ersten Blick werden die Verhältnisse bloß aufgezeigt, insgesamt aber werden sie negiert.32
Der Zeigefinger im Kopf arbeitet, so zeigt sich bereits in »Inge«, nicht nur schneller als die Schere der Zensur, sondern er modifiziert die Sinnzusammenhänge und setzt sie neu zusammen; so entfalten sie ein subversives Potenzial. Voraussetzung dafür ist, dass die Faktur totalitärer Zusammenhänge kenntlich wird: Die Figuren werden dabei vorgeführt, wie sie sich im Takt kollektiver Angst synchronisieren und Handlungsaufträge erfüllen, wie die Überbringerin der samtschwarzen Rosen, die Inge mit dem Tod bedroht: »Die Frau sagte links und tat einen Schritt, die Frau sagte rechts und tat einen zweiten Schritt. (…) Inge hörte ihre Sandalen klappern und ihre Stimme links-rechts, links-rechts, links-rechts sagen.«33 Wenn wenig später Inge auf dem Weg zum Schulinspektorat ihre eigenen Schuhe im links-rechts-Takt klappern hört, wird deutlich, dass existenzielle Angst jede und jeden anfällig für Gleichschaltung macht.
Herta Müller führte in der Paderborner Poetikvorlesung »Der Teufel sitzt im Spiegel« aus, in ihrem Schreiben stets von einem »Punkt der Erfahrung, die ich jemals gemacht habe«,34 auszugehen. Mit dem Punkt ist nicht ein factum brutum gemeint, sondern etwas schmerzhaft Erlebtes, das zum Exemplum erhoben wird. Von einem »kleinen brennenden Punkt«35 geht auch die Figur Inge in der gleichnamigen Erzählung aus, wenn sie, nach der Begegnung mit dem Inspektor wieder zu Hause angekommen, auf den flimmernden Fernsehbildschirm starrt und einen eigenen ›Irrlauf im Kopf‹ beginnt. Sie dekonstruiert das »Panoptikum der Todesarten«,36 in dem sie gefangen ist, indem sie sich selbst zur Beobachterin erhebt und eigene Bilder anstelle der vorgeschriebenen setzt – freilich ein solipsistischer Akt, aber in der Textlogik der einzig verfügbare. In einer Reihe imaginärer Mise en abymes bohrt sich ihr Blick in den Fernsehbildschirm und er-findet darin eine Situation, in der sie sich schließlich selbst beobachten und widerständig agieren kann: »Der Punkt weitete sich und wurde so groß wie der Bildschirm selbst. Inge sah auf dem Bildschirm ihr Zimmer. Inge sah Inge in Inges Zimmer auf Inges Bett liegen. Inge sah Inge auf einem Bildschirm auf einen Bildschirm schauen.«37
Zunächst erfolgt die angsteinflößende Augmentation eines Punktes, der wie ein verstecktes Beobachterauge oder wie eine Kamera innerhalb des Fernsehers wirkt. Die Fläche des Bildschirms konvergiert mit einem imaginären Kameraauge, wobei Inge in der Spiegelung auf dem Bildschirm dasselbe sieht (oder zu sehen meint), was auch ein versteckter Beobachter – das geheime Auge der Securitate im augmentierten Punkt – beobachtet. Angst vor dem Beobachtet-Werden und Selbstermächtigung halten sich am Beginn dieser Szene, die die Ambivalenz aller Mediennutzung in einem Überwachungsstaat förmlich auf den Punkt bringt, die Waage. Im letzten oben zitierten Satz vollzieht sich aber ein re-entry der Unterscheidung zwischen Inge und dem Bildschirm auf der Seite des Bildschirms. Inge sieht dann mehr als ein verstecktes Auge aus dem Fernseher sehen und die Spiegelung des Bildschirms zeigen könnte, nämlich sich selbst wie sie auf den Bildschirm blickt, und wird damit zur höherrangigen Beobachterin, die sich selbst unter den Bedingungen eines ambivalenten mediengestützten Beobachtungsregimes sehen und hinterfragen kann. Dadurch durchbricht sie den Terror der internalisierten Überwachung und imaginiert mediale Verhältnisse, die ihr Kontrolle und Deutungsmacht gewähren. Es ist kein Zufall, dass sich Inge genau nach diesem re-entry ihrer selbst besinnt und an den rettenden Zettel mit der Selbstanweisung ›Kopfstand‹ СКАЧАТЬ