Название: TEXT + KRITIK 155 - Herta Müller
Автор: Группа авторов
Издательство: Bookwire
Жанр: Документальная литература
Серия: TEXT+KRITIK
isbn: 9783967074192
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Auch und gerade Figuren des Abjekten kehren in der Bundesrepublik wieder: der onanierende Mann, für den die Protagonistin eine seltsame Anteilnahme empfindet. Diese liegt darin begründet, dass das Onanieren einer Internalisierung des Übergangsverbots gleichkommt. So wie in der totalitären Gesellschaft abgeschottete Systeme gewünscht sind, bleibt der Mann im eigenen Körper eingesperrt, er bezieht die anderen allerdings in missbräuchlicher Weise in sein Agieren ein: Am rumänischen Strand starrt er, hinter Büschen versteckt, auf kichernde Mädchen am Strand, in einer nächtlichen Straße Westberlins steht ein anderer Mann an einer Ecke, hält sich eine Aktentasche vor und flüstert Passantinnen – so auch Irene – etwas zu. Während sein rumänisches Pendant nicht als bedrohlich wahrgenommen wird, sondern allenfalls Mitleid weckt, erregt die Angst der Passantinnen vor einem Überfall den deutschen Onanierer.20
Es geht Herta Müller freilich nicht darum, die demokratische und wesentlich freiere Gesellschaft der Bundesrepublik mit dem Staatssozialismus gleichzusetzen; vielmehr wohnt ihrer Poetik ein sehr feines Sensorium für kollektive Festschreibungen, Verweigerung von Individualität und fehlende Durchlässigkeit gegenüber Selbstentwürfen inne. Die Diskurse und Mechanismen, die individuelle Übergänge hier wie dort verhindern, werden in ihrer jeweiligen Spezifik (de)konfiguriert.
Herta Müller beschreibt in »Reisende auf einem Bein« Szenen der Verwahrlosung in der Bundesrepublik, die freilich weniger auf staatlichen Normierungszwang zurückzuführen sind als auf normalisierte Empathielosigkeit und auf die Kopplung von Ästhetik und Kommerz. Außerhalb der Verkaufsflächen mehren sich unwirtliche Räume: »Die ganze Stadt war die Rückseite der Stadt.«21 Die Vorderseite wird in den Texten nicht eingeblendet, doch nicht die Versprechung, sondern die Verhinderung von Möglichkeiten sind von Belang.
»Inge. Einem Inspektor gewidmet«: Ironische Dekonfiguration der Propaganda
Das Editorial der »Neue(n) Literatur. Zeitschrift des Schriftstellerverbandes der SR Rumänien« von 1981, das auch drei Erzählungen Herta Müllers enthält, ist dem fünfzigjährigen Jubiläum der Zeitung »Scînteia« (dt. »Der Funke«) gewidmet. Bereits 1931 habe diese »gegen die Reaktion und den Faschismus, gegen den Krieg, für soziale Freiheit und nationale Unabhängigkeit, für Demokratie und Sozialismus« gekämpft; die »demokratische Presse«, die auch eine »revolutionäre« gewesen sei, habe die Richtung des »stets ansteigenden Wegs zum Fortschritt und zur Zivilisation« aufgezeigt, den die Gesellschaft nach der »Befreiung« beschreite.22
Diesen Zeilen würden heutige Leser in einer demokratischen Gesellschaft auf Anhieb wohl zustimmen; tatsächlich beziehen sie sich aber auf eines der zentralen Organe der Kommunistischen Partei Rumäniens, auf eine der wichtigsten publizistischen Stützen der Diktatur Ceauşescus, eine Zeitung, die dem Geheimdienst nahestand und Propaganda in dessen Sinne verbreitete. Die Zeilen vermitteln einen Eindruck davon, was Herta Müller mit der ›hölzernen Sprache‹ der Diktatur und der Komplizenschaft aller Wörter meint, auf die kein Verlass mehr ist. Will man nicht mit diesem totalitären Zugriff auf die Welt identisch sein, muss man ironisch vorgehen, die Begriffe ihren Verwendungszusammenhängen entreißen, eher subjektiv-aisthetische als rationale Pfade einschlagen, um die Absurdität dieser doppelbödigen Ordnung aufzuzeigen. Etwas anderes bleibt den Figuren, die in dieser überwachten Welt leben, auch kaum übrig, unterliegen doch jeder Begriff und jede Interaktion der Definitionsmacht des Totalitarismus.
In der »Scînteia« wird außerdem der Journalismus im Dienst des ganzen Volkes, »ohne Unterschied der Nationalität« zur »Hebung des Lebens- und Zivilisationsstandards« und zur »vielseitigen Vervollkommnung der Organisation und Leitung der Gesellschaft« gelobt; abschließend verwirft das Editorial feindliche »Denkungsarten sowie fremde Anschauungen und Einflüsse (…), Tendenzen des Parasitentums, eines Lebens ohne Arbeit« und spricht sich für »Ethik und Rechtlichkeit« aus.23 Damit kristallisiert sich ein Feindbild heraus – jenes des Schmarotzers, der den Dienst an der vermeintlich intakten Solidargemeinschaft verweigert.
Just in diesem Heft der »Neuen Literatur« erscheint Herta Müllers Erzählung »Inge«, mit der Zueignung »Einem Inspektor gewidmet«. Die Hauptfigur Inge ist offenkundig arbeitslos, auf sie trifft also das im Editorial beschworene Stigma zu. Sieben weitere Erzählungen Müllers handeln von einer Figur dieses Namens, »In einem tiefen Sommer«, »Schulbankgesicht«, »Möbelstücke«, »Der Regen«, »An diesem Tag«, »Eine Arbeit« und »Es ist Sonntag«; Inge wohnt stets eine autofiktionale Funktion inne, wie Herta Müller selbst erklärte.24
Mit dieser hilflosen, ihren eigenen Wahrnehmungen ausgelieferten Figur entwickelt Müller schon früh ein wichtiges Merkmal ihres Stils. Drastisch schildert ihre Sprache Verletzungen, die Inge erlebt, indem sie keiner Ideologie einen Sinn abgewinnen kann, obwohl sie über keinen eigenen belastbaren Selbst- und Weltentwurf verfügt. Gewalterfahrungen und bedrückende Leere bestimmen demzufolge Inges Erleben. Weil sie die Staatsideologie nicht teilt, wirkt diese nicht sinnstiftend; ihre Sozialisation im System hat zur Folge, dass ihr sowohl öffentlicher Widerstand als auch eigenständige gesellschaftliche Gegenentwürfe sinnlos scheinen. Auch kommen die Machthaber als moralisch und intellektuell beschränkte Wesen daher – sie erinnern an Hannah Arendts »Banalität des Bösen« und vermitteln den Eindruck, eine gegen sie initiierte Revolte gar nicht begreifen zu können. Daher verlagert sich Inges Widerstand nach innen, in eine subjektive, individuelle Sprach- und Bildwelt. Diese Disposition wird nicht als individuelle Schwäche dargestellt, sondern als Effekt eines gesellschaftlichen Systems, das selbst keine Spielräume für offenen Widerstand zulässt. Im Leiden Inges an den Menschen, denen sie begegnet, äußert sich Kritik an der generalisierten Angst, an der Internalisierung der Regeln der Diktatur und an Automatismen, die an die Stelle zwischenmenschlicher Interaktionen getreten sind. Inge weigert sich, auf vorgefertigte Versatzstücke, auf Skripte zurückzugreifen, die in der sozialistischen Diktatur sicherstellen, dass die Einzelnen aus Sicht des Geheimdienstes Securitate keine Fehler begehen. Damit verschmäht sie das Sinnstiftungsangebot der totalitären Gesellschaft. So leistet sie eine Form passiven Widerstands, der mit eigener Beschädigung einhergeht – denn Inge ist den Gewaltmustern ausgesetzt, ohne die Partizipationsangebote der sozialistischen Gesellschaft wahrzunehmen und ohne ihr Widerständig-Sein mit anderen zu teilen.
Durchgehend findet sich im Innenleben Inges das Motiv der systematischen Umkehrung der in ihrer Gesellschaft bekannten Markierungen als Befreiungsakt – sei es, dass sie auf Landschaften, auf den menschlichen Körper oder auf einzelne Sinneswahrnehmungen bezogen sind. In einem Bewusstseinsstrom voller Montagen, die die allgemeine Proliferation der Täterschaft spiegeln, wird selbst die Vegetation übergriffig. Nicht nur die Natur, auch das eigene Empfinden und die Sprache, die der Verstand vergebens einsetzt, um sich zu orientieren, sind korrumpiert von allgegenwärtiger struktureller Gewalt. Gleichzeitig ringt Inge mit sich selbst, um sich davon zu lösen: »Der Himmel war dieselbe Betonplatte wie das Pflaster, auf dem Inge mit den Füßen stand. Inge musste auf dem Kopf gehen, weil der Himmel auch ein Gehsteig war.«25 Im Fortlauf dieser surreal anmutenden Szene, die an den Anfang von Georg Büchners »Lenz« erinnert, spießt ein Baum Inge auf, sie bearbeitet darauf hin alle Blätter mit den Zähnen, »bis alle Blätter gezackt waren und einen anderen Baum bildeten. Inges Kopf drehte sich und stellte sich quer. Er stand mit dem Hals nach oben.«26 In diesen Hals legt eine fremde Frau, eine Botin des Geheimdienstes, СКАЧАТЬ