Ein Kerl wie Samt und Seide. Will Berthold
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Название: Ein Kerl wie Samt und Seide

Автор: Will Berthold

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

Серия:

isbn: 9788711726945

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СКАЧАТЬ aus der Not heraus Kohlen-Waggons stürmte, eine Art Plünderungs-Dispens. Die Rheinländer sagten seitdem, wenn sie auf Organisationsfahrt gingen: »Geh’n wir fringsen.« Ganz Deutschland ›fringste‹ sich durchs kümmerliche Leben, die Hausfrauen und die Großväter, die Kinder und die Nachbarn, wenn sie auch nicht alle so erfolgreich ›fringsten‹ wie die ›Fräuleins‹.

      Maletta hatte die Barer Straße erreicht, überquerte die Gabelsberger- und bog in die Schellingstraße ein – und jetzt fragte er sich nur noch, wie Lisa sein unverhofftes Auftauchen aufnehmen würde.

      Maletta überwand den Portier, setzte sich bei einer deutschen Empfangsdame durch, die sich amerikanischer aufführte als sämtliche Amerikaner im Hause zusammen – nicht grundlos verspottete man das Military Government auch als Mistress-Government; schließlich bequemte sie sich doch zu einer Besuchserlaubnis im Vorraum der Redaktion.

      Ein paar Minuten später kam Lisa.

      Blond, adrett, höflich-distanziert, ein Gesicht, ein Lächeln, das kein Lächeln war. Erst im letzten Moment erkannte sie den Besucher. Es war zu viel für die Sekunde der Wiederbegegnung, aber sie stand es durch.

      »Du?« sagte sie ungläubig. Ihre Stimme klang verschüttet. »Du lebst, Peter?«

      »Wir leben«, erwiderte Maletta.

      Sie stand vor ihm, mit klammen Armen.

      Ihre Augen waren naß von ungeweinten Tränen.

      Im ersten Moment hatten sie beide eine Entfremdung gespürt, als seien sie sich nicht nach 16 Monaten, sondern erst nach 16 Jahren plötzlich wieder begegnet. Maletta wollte es vor dem Mädchen und Lisa vor dem Mann verbergen, aber beide hatten kein Talent zur Verstellung und zudem kannten sie sich zu gut: Weil sie sich sehr nahe gestanden hatten, waren sie einander fremd geworden. Ihre Vergangenheit war zugewachsen wie ein verwilderter Gartenpfad.

      »Verzeih, Peter«, sagte das Mädchen. »Aber dein Auftauchen hat mich einfach aus den Pantinen geworfen. Du kannst dir ja vorstellen, wie sehr ich mich freue, dich zu –« Sie sah auf die Uhr: »Es gibt zwei Möglichkeiten.« Die Blondine mit den klaren Augen und der absoluten Unähnlichkeit mit ihrem Vater sprach wie aufgezogen: »Entweder du holst mich in einer guten Stunde hier ab, oder du wartest inzwischen in der Kantine auf mich.«

      »Was meinst du, wie lange ich schon auf dich gewartet habe, Lisa?« sagte der Mann und lächelte, leicht verkrampft. »Weißt du, was aus den anderen geworden ist?«

      »Nicht viel«, wehrte Lisa ab. »Wenn du willst, bring’ ich dich in die Kantine«, setzte sie hinzu. Ihre Haltung war bewundernswert, sie wirkte frisch und appetitlich. Ihr flächiges Gesicht, dem die Monate des Wahnsinns nichts hatten anhaben können, wurde von den großen, grünen Augen beherrscht, Im Zirkus Maletta war sie eine Steptänzerin gewesen, aus Hobby, nicht professionell.

      Die Münchener Zeitung, bei der Lisa arbeitete, ein deutschsprachiges, von der Militärregierung herausgegebenes Blatt, stand vor ihrer Umbenennung in Neue Zeitung; sie hatte das überbreite Format von ihrem Vorgänger, dem Völkischen Beobachter, übernommen, der offiziellen Zeitung der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP). Auf den Redaktionsstühlen, die bis vor zwei Monaten noch stramme Nazis innegehabt hatten, saßen jetzt deutsche Emigranten in US-Uniform und ihre deutschen Helfer in umgeänderter Wehrmachtsmontur. Bis zum Frühling dieses Jahres hatten die braunen Skribenten das Heldentum beschworen und unter Hinweis auf die Wunderwaffen bis zum letzten Tag behauptet, die militärische Lage sei noch zu wenden, wenn alle bis ›zum letzten Atemzug‹ durchhielten; ihren olivgrünen Nachfolgern stellte sich jetzt die Aufgabe, das Ausmaß des Konkurses den Lesern darzustellen und sie trotzdem an einer Massenexplosion der Verzweiflung zu hindern.

      »Hier«, sagte Lisa und steckte ihrem Begleiter einen roten Essensbon zu. »Darauf bekommst du ein Abendessen, recht schmackhaft, und ich – ich brauch’s wirklich nicht.«

      Es war traurig und rührend zugleich.

      Der Mann, der aus dem Dunkel kam, fragte sich, ob er so hungrig aussähe. Physisch gesehen war er satt, aber er hatte den Wahnappetit eines Kannibalen auf einen Mann namens Machoff.

      »Bis bald«, sagte Lisa und nickte ihm zu.

      Sie hatte sich nicht verändert und wirkte doch ganz anders. Vielleicht lag es auch an ihm, vielleicht hatte er sich verändert. Aber wer könnte den Mühlen der Zeit unversehrt entkommen?

      Er sah die Essenmarke an und stellte fest, daß sie an jedem beliebigen Tag verwendbar war. Er schob sie ein, um sie Lisa zurückzugeben, die jetzt vermutlich für ihn hungerte. Er könnte dafür sorgen, daß sie satt würde und sie sich bald wieder so unbefangen gegenüberstünden wie vor einer Steinzeit von 16 Monaten.

      In der Schlange vor dem Essenschalter erkannte Peter Maletta den bekannten Poeten, geduldig zwischen einem Rotationsarbeiter und einem Redaktionsboten wartend, einen kleinen Flirt mit einer unwirschen Essenausgeberin riskierend, für die ein Erich Kästner nichts anderes war als einer dieser Hungerleider, die nie den Teller voll genug bekommen. In einer Zeit, da man in Deutschland für eine Ami-Zigarette fast einen Tag lang arbeiten mußte, konnte man für einen Klatsch Gemüse und eine Scheibe Spam den Dichter von zum Beispiel: »Wenn wir den Krieg gewonnen hätten …« als exzellenten Mitarbeiter der Kultur-Redaktion für ein Maisbrot gewinnen.

      Gegen 20 Uhr 30 war Lisa wieder in der Kantine erschienen und hatte Maletta mit den Augen gewinkt.

      »Hat’s geschmeckt?« fragte sie.

      »Ausgezeichnet«, erwiderte er und gab Lisa den Bon zurück. »Das reinste Drei-Sterne-Lokal.«

      »Aber«, stotterte sie, »du solltest doch – vielleicht –«

      »Ich hab’ keinen Hunger, Lisa, und auch keinen Appetit«, entgegnete er. »Es geht mir gut. Viel zu gut. Manchmal schäme ich mich dafür.«

      Sie hatten die Schellingstraße erreicht.

      »Bist du schon lange in München?« fragte Lisa.

      »Zehn Tage«, erwiderte er.

      »Da hast du mich aber schnell gefunden.«

      »Ich hatte ja auch nichts anderes zu tun«, behauptete Maletta und deutete auf den Jeep vor dem Haus.

      »Du scheinst es wirklich schon wieder weit gebracht zu haben«, sagte Lisa lächelnd und stieg ein.

      »Aber ich bin kein Schwarzhändler«, bemerkte er.

      Lisa wurde ernsthaft: »Und du bist auch kein Filou mehr?«

      »Ich glaub’ nicht«, antwortete Maletta. »Tempi passati.«

      »Wie bist du auf mich gestoßen?«

      »Über deine Tante, über ICD und über einen Clearing-Officer der Militär-Regierung«, erklärte Maletta und drehte den Zündschlüssel um.

      »Wohin?« fragte er und sah Lisa an.

      »Schwierig«, erwiderte sie. »Ich wohne mit drei anderen zusammen in einer Keller-Ruine, in der das Wasser steht.«

      »Dann zu mir«, entschied Peter. »Da steht kein Wasser.« Er gab keine weiteren Erklärungen und Lisa stellte keine Fragen, auch nicht, als sie durch den gepflegten Vorgarten zu der Wohnung über СКАЧАТЬ