Название: Chefarzt Dr. Norden Staffel 6 – Arztroman
Автор: Helen Perkins
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Chefarzt Dr. Norden Staffel
isbn: 9783740976828
isbn:
Kai hatte viele Jahre die unverhältnismäßig brutalen Züchtigungen des Vaters ertragen, nicht schweigend wie die Mutter, meist weinend und dem Hohn und Spott des Alten zudem ausgesetzt. Dann war er vierzehn geworden, hoch aufgeschossen, hatte nach dem Stimmbruch angefangen, Sport zu machen. Irgendwann hatte der Alte es nicht mehr gewagt, die Hand gegen ihn zu heben. Mit seinem Bierbauch und dem vom Bluthochdruck geröteten Gesicht war er schließlich in den Fünfzigern einer koronaren Verstopfung zum Opfer gefallen, standesgemäß auf seinem Lieblingshochsitz in seinem Revier, in der Rechten noch die geladene Flinte, in der Linken den versilberten Flachmann.
Kai hatte bittere Tränen an seinem Grab geweint, und nur er hatte gewusst, dass er den Jahren nachweinte, in denen er diesen Schinder hatte ertragen müssen. Warum nur hatte seine Pumpe nicht viel früher den Geist aufgegeben?
Die Mutter war wenige Jahre später in einem Sanatorium bei Meran verstorben, dement und bar aller bösen Erinnerungen.
Dann endlich war Kai frei gewesen. Begütert, beruflich erfolgreich, blendend aussehend. Die Münchner Schickeria hatte ihm zu Füßen gelegen, die Frauen waren hinter ihm her wie der Teufel hinter der armen Seele. Er hatte viele erobert, er hatte zweimal geheiratet. Doch er hatte nichts empfunden, keine Freude, keine Liebe, keine Lust. Nur den Wunsch, etwas von den Hieben und Schmerzen weiterzugeben, die der kleine, blasse Knabe im Jagdzimmer der elterlichen Villa empfangen hatte.
»Wie’s drinnen aussieht, geht keinen was an.«
Er lachte kalt und spöttisch auf. Selbst heute noch, nach all den Jahren, wäre es ihm eine Lust gewesen, es seinem Vater heimzuzahlen, einmal nur einen von dessen glatt polierten Gehstöcken aus Erle oder Rosenholz auf seinem massigen Rücken zu zertrümmern. Doch der Alte war fort. Und die Sammlung seiner Stöcke hatte Kai im offnen Kamin seines Elternhauses zu Asche verbrannt.
Der Unternehmer kehrte an seinen Schreibtisch zurück, um noch einige Telefonate zu führen. Dabei betrachtete er das Foto von Lisa und Torben, das in einem schweren Silberrahmen aus der Zeit des Jugendstils steckte. Lisa, die süße Lisa. Ihr Blick hatte etwas in seinem Herzen berührt. Das war niemals zuvor geschehen. Er wusste nun, dass es Schmerz gewesen war, Verlust und Trauer. Sie hatte ihren ersten Mann sehr früh und plötzlich verloren. Die Tränen hatten einen Schatten auf ihrer Seele hinterlassen, einen Schmerz in ihren Augen, dem er sich spontan verwandt gefühlt hatte. Er hatte sie heiraten müssen, es war ihm einfach ein Bedürfnis gewesen.
Als die hübsche kleine Sekretärin und ihr pflegeleichter Sohn in sein Haus gekommen waren, da hatte er tief im Herzen in beinahe naiver Inbrunst darauf gewartet, dass sich etwas ändern würde. Dass er endlich in der Lage sein würde, zu fühlen, zu empfinden, so wie alle anderen. Dass Lisas zarte, schmale Hände den Eispanzer schmelzen würden, der sein Herz umgab.
Aber das heimlich ersehnte Wunder war nicht geschehen. Kai hatte erkennen müssen, dass hinter dem Eispanzer nichts war, nur weiteres Eis, Kälte und Gefühllosigkeit. Sein Herz war lange gestorben, tot und gefühllos lag es wie ein Stein in seiner Brust. Diese Erkenntnis hatte wieder seinen alten Freund geweckt; den Jähzorn.
Vor Jahren, kurz nach seiner ersten Scheidung, hatte er sich in Therapie begeben, um diesen unkontrollierbaren, weißglühenden Kerl endlich aus seinem Kopf zu verbannen. Er hatte über Monate in seiner Kindheit gewühlt, mit beiden Armen tief in Herzblut und Innereien, ohne aber etwas zu erreichen. Der Therapeut war der Meinung gewesen, dass er zu schnell aufgab, doch Kai hatte schließlich keinen Sinn mehr in dieser ergebnislosen Selbstzerfleischung gesehen. Er hatte sich damit abgefunden, dass der andere er war, dass er zu ihm gehörte. Geboren aus dem Schmerz der frühen Kindheit, war er mit seinem Denken und Fühlen untrennbar verwachsen. Es gab keinen Ausweg, keine Heilung. Schnitt man die Geschwulst weg, blieb nichts übrig. Das war die nackte Wahrheit.
Und als auch Lisa versagt hatte, ihn enttäuscht, zu schnell zurückgezuckt war, nachdem sie einen kleinen Blick hinter die Fassade geworfen hatte, da musste er dem alten Freund die Zügel lassen, um wieder klar denken zu können.
Die Angst in Lisas Augen, der Schmerz, die Verzweiflung, sie waren anders als alles zuvor. Sie verschafften ihm keine Befriedigung, kein Gefühl der Macht und Überlegenheit. Sie schmerzten ihn in zunehmendem Maße. Je härter er zuschlug, desto tiefer verletzte er sich selbst. Es gab keinen Ausweg. Er liebte Lisa, aber er würde diese Liebe niemals leben können.
»Wie’s drinnen aussieht …«
Wenig später verließ Kai Wagner seine Firma, um nach Hause zu fahren. Er stoppte seinen dunkelblauen Jaguar Roadster vor einer kleinen Bar am Stachus, um schnell noch zwei Whisky zu kippen. Der Alkohol entspannte ihn ein wenig, brachte das Mühlrad in seinem Kopf zwar nicht zum Stehen, verlangsamte seine Umdrehungen aber zumindest.
Als er dann darauf wartete, dass das übermannshohe Tor aus kunstvoll geschmiedetem Eisen vor seiner Auffahrt lautlos aufschwang, spürte er bereits wieder, wie sein weißglühender Freund sich regte. Ärger stieg in ihm auf. Er biss die Zähne zusammen, gab etwas zu heftig Gas, was der schwere Motor mit einem unangenehm hohen Kreischen kommentierte. Plötzlich sah er seinen Vater in der Auffahrt stehen, im grünen Loden, beide Arme in die Hüften gestemmt, und den Mund zu einem hähmischen, bösen Grinsen verzogen.
Kai gab Gas und musste dann vor den Garagen eine Vollbremsung hinlegen. Er atmete tief durch, doch sein Herz schlug viel zu schnell und der Zorn, der ihn erfüllte, wurde zu einem spitzen, schmerzhaften Kratzen, so als ziehe jemand in seinem Hals eine Nadel hin und her. Er knallte die Autotür zu, dass es sich anhörte wie ein Schuss. Dann stampfte er mit geballten Fäusten ins Haus. Und in diesem Moment hätte man ihn tatsächlich mit seinem Vater verwechseln können.
*
Mark Hansen nahm den Intercity, der am nächsten Abend kurz nach zehn in Ulm abfuhr. Er hatte vor zwei Stunden noch einmal mit seiner Schwester telefoniert und wusste nun, dass sie sich in einer kleinen Pension am Stachus treffen würden. Pension Mecking. Er hatte den Namen und die Adresse in sein Filoflex geschrieben, um sie ja nicht zu vergessen. Während der Zug durch den Frühlingsabend rauschte, dachte Mark an ein anderes Telefonat, das er noch am Vorabend mit seinem Studienfreund Simon Berger geführt hatte. Simon war erfreut gewesen, von ihm zu hören, sie hatten sich eine ganze Weile nett unterhalten, bis Mark auf den eigentlichen Grund seines Anrufs zu sprechen kam. Er kannte Simon gut genug, um ganz ehrlich zu ihm zu sein, und der hatte sich sehr betroffen gezeigt.
»Klar übernehme ich den Fall«, war seine spontane Reaktion gewesen. »Aber ich dachte, deine Schwester wäre mit diesem KFZ-Fritzen verheiratet, wie war doch gleich sein Name …«
»Rolf Schubert. Nein, der ist vor ein paar Jahren mit dem Motorrad tödlich verunglückt. Lisa ist nach München gezogen, um neu anzufangen. Sie hat zuerst als Sekretärin für Wagner gearbeitet und sich dann in ihn verliebt. Er ist so ein Frauentyp, weißt du, kann jeder den Kopf verdrehen. Es dauert, bis sie hinter seine Fassade sehen können. Und dann ist es meist schon zu spät, um unbeschadet da heraus zu kommen. Für ihn war es bereits die dritte Ehe. Lisa wusste nichts davon, auch nicht, dass er seine beiden ersten Frauen krankenhausreif geprügelt hat, bevor sie die Scheidung einreichten.«
»So ein Schwein. Ich kenne solche Fälle, leider kommt das gar nicht mal selten vor. Und ich kann dir versichern, dass es einem keine wirkliche Befriedigung verschafft, diesen ›Herren‹ ihr Geld abzunehmen. Eine Abfindung ist in einem solchen Fall nichts weiter als ein Trostpflaster.«
»Das klingt, als würdest du sie gerne zusammenschlagen.«
Simon hatte zwar gelacht, doch ein wenig Befangenheit hatte darin durchaus mitgeschwungen. Mark konnte ihn verstehen. Und er fand es gut, dass der Freund sich emotional СКАЧАТЬ