Название: Stern der Ungeborenen. Ein Reiseroman
Автор: Franz Werfel
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9788726482362
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„Berechtigt zu wählen“, so setzte die radioartige Stimme des Fremdenführers die Belehrung fort, „ist jeder Mann, jede Frau, jeder Junggeselle, jede Junggesellin, kurz jegliches Io, welches das dreiunddreißigste Lebensjahr vollendet hat. Berechtigt, gewählt zu werden sind immerdar nur elf entpersönlichte Persönlichkeiten. Es sind die Seleniazusen, die Mondgeweihten . . .“
Der Kürze wegen werde ich versuchen, die direkte Rede des Fremdenführers zu unterbrechen und diese sonderbare Sache mit eigenen Worten zu umschreiben. Ich muß zugeben, daß ich, außerstande irgendwelche Notizen zu machen, die ich freilich nicht hätte mitbringen können, mir von den einundzwanzig Bedingungen, welche die Selenezusia, die Mondgeweihtheit, ausmachen, zwar einen wichtigen Teil, nicht aber alle gemerkt habe. (In dem Worte „Mondgeweihtheit“ wird gar mancher einen Rückschritt bis zur mythologischen Epoche der Menschheit verspüren, bis weit hinters allgemeine Wahlrecht meiner eigenen Jugendzeit zurück — dieses Gefühl wird aber irrig sein und den Tatsachen durchaus nicht gerecht werden.) Die elf Seleniazusen, welche, ohne es selbst zu wissen, die Kandidatur für das oberste Weltvorsteheramt innehatten, wurden von einer geheimen Kommission nach gewissen gesetzlich geforderten körperlichen Merkmalen und geistigen Eigenschaften aufgestellt, und zwar erfolgte ihre Erkürung schon im zarten Alter von fünf Jahren.
Von ihrem fünften Jahre an wurden sie unmerklich aber beständig überwacht. Die Zahl der auf diese Weise unbewußt zur Kandidatur Zugelassenen konnte bis auf einhundertzehn anwachsen, die erst im Bedarfsfalle — das war die Erledigung der Erdballpräsidentschaft — auf die verfassungsmäßig vorgeschriebenen Elf von der geheimen Kommission heruntergesiebt wurden. Diese Kommission war immerfort auf der Suche nach kleinen Kindern, welche die Eignung für das höchste Amt der geeinigten Menschheit besaßen. Im Hinblick auf dieses verschwiegene Suchen, Prüfen und Küren wurde das Wahlrecht „geheim“ genannt, und nicht etwa im Hinblick auf die Geheimhaltung des Wahlzettels, wie einst. Bei der Eröffnung dieser Dinge mußte ich B.H. anblicken, den Tibetaner, der vermutlich noch stärker als ich an die Suche nach dem kindlichen Dalai Lama, nach dem wiedergeborenen Buddha in der verbotenen Stadt Lhassa gemahnt wurde. So kehren alle Motive in der Geschichte wieder, ungeachtet der Zeiträume. Ich hielt aber den Mund.
Folgende körperliche Eigenschaften habe ich mir gemerkt, an welchen die Kommission nach altüberlieferter Vorschrift die echten Seleniazusen und Erdballpräsidentablen zu konstatieren pflegte: Der Ringfinger der linken Hand mußte um mehr als einen Zentimeter länger sein als der Zeigefinger und womöglich auch noch den Mittelfinger überragen. Die Schilddrüse mußte langsamer als normal funktionieren, so daß viele der Präsidentablen, ohne freilich die Gesetze der allgemein erreichten Schönheit zu verletzen, oft zu leichtem Embonpoint neigten. Ferner mußte der Seleniazuse nicht nur mehr Fähigkeit zum Schlaf entwickeln als der gewöhnliche Mensch, er mußte überdies mit offenem Munde schlafen. Der Grund für letzteres sollte eine nach rechts verkrümmte Nasenscheidewand sein, welche den Sonnenatem behinderte, der durch die rechte Nüster eingesogen wird, während die offene linke Nüster dem Mondatem freien Raum läßt. Dies ein Teil der körperlichen Merkmale. Auch die geistigen und seelischen Eigenschaften, die ich hier anführe, sind mehr als unvollständig: Langsames, aber wenn nötig tiefschürfendes Denken. Hang zu Träumerei und Geistesabwesenheit. Menschenscheu, Schüchternheit, Einsamkeitssucht, Neigung zu generösen Verallgemeinerungen und Abstraktionen. All diese Eigenschaften setzten eine zweifellose Schwäche des Tatsachen- und des Machtsinnes voraus. Gerade diese Schwäche aber wurde (oder besser gesagt, sie wird einmal werden) vom Oberhaupt gefordert, vermutlich, um den machtstrebenden Typus von der Macht zu verdrängen, um dem Ehrgeizigen die Ehre zu versalzen und um Tyrannis und Despotie in der menschlichen Natur radikal zu brechen. Während ich dies niederschreibe, kommt mir noch eine biographische Kondition in die Erinnerung zurück, welche vom mondgeweihten Regentschaftskandidaten, wenn nicht gefordert so doch erhofft und erwartet wurde. Es war nicht etwa nur das einfache Zölibat, sondern eine ausgesprochene unglückliche Liebe (etwas, wie man sich denken kann, zur Zeit äußerst Seltenes), die der Präsidentabilis am bürgerlichen Wendepunkte seines Lebens zu leisten hatte, eine unglückliche Liebe ganz alten Stils, am besten mit durchweinten Kissen und schlechten Gedichten. Erst nach dieser Offenbarung einer verletzlichen und selbstunsicheren Seele, welche die zölibatäre Resignation zur Folge hatte, war die Eignung, das heißt die Nichteignung zur höchsten Macht völlig erwiesen.
Nun noch rasch gehandelt über die Wahlprozedur selbst, soweit mir die Belehrung des Fremdenführers darüber Klarheit verschaffte. Die Amtsdauer des jeweiligen Major Domus Mundi war lebenslänglich. Sie endete erst damit, daß derselbe aus dem Dasein abging. Das Geheimnis dieses Abgangs, welches die Worte Sterben und Tod geflissentlich immer und immer wieder vermied, werde ich, wie schon gesagt, erst am Ende meines Besuches lüften dürfen. Daß dieser Abgang „freiwillig und zu Fuß“ erfolgte, das hatte fürwitzigermaßen der Beständige Gast mit der Barockphysiognomie schon während des Festmahls im Hause der Hochzeiter verraten. Ich selbst will nichts weiter verraten und bitte auch den Leser inständig, keinesfalls die letzten Seiten dieses Buches aufzublättern. (Auch die Beziehung zwischen Leser und Autor muß ja auf Vertrauen gegründet sein.) Die Freiwilligkeit des letzten Weges schloß es ja schon beim durchschnittlichen Zeitgenossen aus, daß er in überraschender und nicht vorherberechneter Art aus dem Leben verschwand — um wieviel mehr erst beim höchstgestellten Zeitgenossen. Und doch, gerade in seinem, des Höchstgestellten Falle, war nur die geheime Kommission vom Antritt seines letzten Weges unterrichtet. Die Öffentlichkeit erfuhr erst davon, wenn die Wahlen ausgeschrieben wurden. In der Stunde aber, da der alte (und noch immer jugendschöne) Major Domus Mundi dahinging, wurden die elf Kandidaten der Nachfolgeschaft in ein klosterartiges Gefängnis geworfen, wo sie in strenger Klausur, Dunkelhaft und Leibesaskese das Wahlresultat abzuwarten hatten. Sollte einer aber annehmen, daß die elf präsidentablen Seleniazusen sich über Gefangenschaft und Entbehrung beklagten, der würde weit danebenschießen. Sie klagten einzig und allein über das Mißgeschick, das gar bald einen unter ihnen treffen mußte, nämlich zum höchsten Range über den Menschen erkoren zu werden. Wie oft beschworen sie ihre Wärter und die Mitglieder der Kommission, sie entschlüpfen und ins Nichts zurücksinken zu lassen oder auch sie für immer in Dunkelhaft zu halten; nur einer einzigen Gefahr suchten sie zu entgehen, der Gefahr, in den Mittelpunkt irdischer Angesehenheit zu geraten.
Für den geneigten Leser wird diese Verhaltungsweise ebenso schwer zu verstehen sein wie für mich und die ganze Welt, in die ich von dort wieder zurückkehrte. Unsre Könige, Präsidenten, Vizepräsidenten, Minister, Staatssekretäre, Gouverneure, Regierungsräte, Bürgermeister und Dorfschulzen kleben an ihren diversen Thronen und Amtsstühlen. Sie klammern sich an den Armlehnen dieser Sitzgelegenheiten mit verzweifelten Fingern fest, so daß sie bestenfalls ein Fußtritt oder eine aufrührerische Kugel herunterbefördern kann. Sind sie wählbar, würden sie sich am liebsten zwanzigmal zu Amt und Würden wählen lassen, um ja nicht die Schmach zu erleben in die Reihen der Unscheinbaren und Namenlosen zurücktreten zu müssen. Der Politiker ist nämlich nur ein Parasit des Ruhmes. Was der Begabte sich durch die Ungewöhnlichkeit seines Wesens und Wirkens verdient, den Namen, das erschleicht sich der Politiker durch die gewöhnlichsten Gewöhnlichkeiten, auf Tagungen, Konventionen, Parteikongressen, in Versammlungssälen und den Hinterzimmern der Intrige, des Kuhhandels und der Korruption. Wie bergschwer niederpressend, wie zermürbend, wie atemverschlagend ist doch der Besitz der Macht. Muß nicht ein nur mittelmäßig moralisches Menschenwesen sich vor jeder folgenreichen Entscheidung in Nachtschweiß und Angstträumen winden, wenn diese allein von seiner Unterschrift abhängt? Und doch, die Mächtigen gediehen in der Zivilisation des zwanzigsten Jahrhunderts prächtig. Sie wurden alt, hatten gute Nerven und volle Bäcklein, und die besten unter ihnen tafelten, tranken und rauchten mit sichtbarer Lebensfreude. Es war, als wären sie über Menschenmaß aufrechtgehalten worden vom stählernen Korsett eines dämonischen Hochmuts, von einer orgiastischen Hybris, der die letzten Winkel ihres Selbst mit dauernder Wonne füllte, die nichts andres schwächen konnte, es sei denn der Verlust der Macht. Dieser allerdings war eine Tragödie, an der sie ähnlich, СКАЧАТЬ