Название: Stern der Ungeborenen. Ein Reiseroman
Автор: Franz Werfel
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9788726482362
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Wie anders die Seleniazusen der fernen Zukunft, in welcher ich mich soeben mit Leib und Seele befinde. Auf den Knien lagen sie vor ihren Kurmännern und flehten, von dem Nachtmahr der Macht, der Würde, der Ehre befreit zu bleiben, wobei als einzige Erleichterung des Unglücks galt, daß der Erwählte überhaupt nicht mehr werde „heißen“ müssen, so daß wenigstens nur ein Namenloser und daher nicht Identifizierbarer die Last der Ehre trug. — Inzwischen aber wurden im Zuge des Wahlprozesses die Namen der Präsidentablen an den Nachthimmel geworfen, nebst genauer Conduite, unerbittlicher Charakterisation und Biographie, und zwar von der Hand des Uranographen der „Abendsterne“, damit die große Masse der Wähler sich ein Bild von jedem Erwählbaren machen könne. Das wiederholte sich allabendlich und dauerte seine Zeit. Dann erst erfuhr das Volk das festgesetzte Datum des Wahlaktes. Was es aber nicht erfuhr, war der Umstand, ob derjenige als gewählt zu betrachten sein werde, der die meisten, oder derjenige, welcher die wenigsten Stimmen auf sich vereinigte. Das entschied ein kleines Gremium von Chronosophen und Geistesforschern. So aber blieb es dem Wähler verborgen, ob er durch seinen Stimmzettel den Erkorenen in das Schilderhaus des höchsten Weltranges bugsierte oder es ihm verschloß. Wenn mir diese Frustration des Wählers jetzt nach meiner Rückkehr oft unbegreiflich erscheinen will, damals, das heißt dereinst in fernster Ferne, als ich sie zum erstenmal aus dem Munde des Fremdenführers vernahm, entzückte sie mich wie ein kühn erratenes Rätsel oder die elegante Lösung eines schwierigen mathematischen Problems.
Als ich vorhin das Wort „Schilderhaus“ in Verbindung mit dem Worte „Welthausmeier“ vernommen hatte, da war in mir der Gedanke entstanden, daß die Machtfunktion in ihrem obersten Vertreter sichtbar und sinnbildlich erniedrigt werden sollte. Ich erwähne diese falsche Anwandlung nur, um die ehrfurchtgebietende Wirklichkeit des Mächtigen, der unter der Macht litt, des Ehrenreichen, der keine Ehre wollte, deutlicher hervorzuheben, denn schon war der Fremdenführer in der Hoheitsbaracke verschwunden, und meine Hausgruppe schob mich ihm nach mit sanftem Drucke durch die offene Tür in die bräunliche Dämmerung hinein. Ich unterschied zuerst zwei kleine Lämpchen auf dem Fußboden, zwei Nachtlichter, Totenlichter hätte ich beinahe gesagt, deren Schein sich kaum durch die Dämmerung arbeiten konnte. Es waren die ersten „natürlichen“ Lichtquellen, die ich in dieser Welt der unsichtbaren und differenziertesten Beleuchtungsarten zu Gesicht bekam, flache Schnabellämpchen antiker Fasson, wie man sie in Babylon und im ältesten Rom verwendet haben mochte, ölgefüllte Gefäßlein, in denen ein Docht schwamm. So floß in schwachem Funzelschimmer an dieser Stätte des gegenwärtigen Geoarchonten das unnennbar Antike mit dem unnennbar Modernen zum ewig Menschlichen zusammen. Dies war vermutlich zu sinnbildlichem Ausdruck nicht anders beabsichtigt, denn nichts ist hartnäckiger im ewig Menschlichen als der Wunsch, der Wirklichkeit eine doppelte Bedeutung zu geben und den platten Dingen einen göttlichen Hinterhalt zu legen. Die sogenannten realistischen Zeitalter, die von der göttlichen Doppelbedeutung der Realität mit Erbitterung nichts wissen wollen, das zwanzigste Jahrhundert zum Beispiel, in welches ich aus des Geoarchonten Schilderhaus inzwischen heimgekehrt bin, werden von ihrer sinnentleerten Realität zerfressen wie von Schwefelsäure.
Jetzt begann ich deutlicher zu sehen. Zwischen den beiden archaischen Lämpchen aus Alt-Rom oder Babylon wuchs das Ruhelager des Weltregenten zu Beginn des zweiten Jahrhunderttausendes gegen den Hintergrund des engen Wachtlokals massig aus dem Dunkel. Das Kopfende war ziemlich hoch gebaut, so daß man die schlafende, in die violetten Ehrenschleier ihres Herrscheramtes gehüllte Figur darauf von Kopf zu Füßen überblicken konnte, und das Gesicht in seiner alterslos gelblichen Elfenbeinfarbe immer deutlicher hervortrat wie bei einem Aufgebahrten. Ja, er schlief, der wichtigste und hervorstechendste Mann dieser Zeit, der einzige Namenlose und daher mit sich selbst nicht Identifizierbare unter den lebendigen Ios, ihr ungekrönt gekröntes Haupt. Er schlief, wie sich’s für einen Seleniazusen gebührte, gleichmäßig atmend, doch mit halboffenem Mund. Man sah sogleich, daß dieser Schlaf nicht die übliche Schwäche unsrer gefallenen Natur war, die Erholung und Erquickung braucht, sondern eine Art von amtlichem Schlaf, währenddessen ein Teil der für mich undurchdringlichen Regierungsgeschäfte erledigt wurde. Ich mußte an die Zusammenstimmer auf ihren Strecksesseln unter der dicken Glaskuppel denken, an jene hohen Beamten, welche den mentalen Reiseverkehr der Menschheit in Übereinstimmung zu bringen hatten. Auch sie taten’s im Schlaf, mehr als das, kraft ihres Schlafes, obgleich ihr Amt an Rang, Würde und Wert tief unter dem des Weltoberhauptes stand. „Die Verwendung des Schlafes für erhöhte geistige Lebenstätigkeit“, dies enthüllte sich mir jetzt als ein völlig unbekanntes und unerklärliches Gebiet, auf dem der Mensch einen seiner bisnun größten Fortschritte gemacht hatte. Wir, ich meine den Leser und mich, wir verschlafen von unsern durchschnittlichen siebzig Jahren ein Drittel, das sind ungefähr dreiundzwanzig Jahre, wodurch eine schon recht hoch gerechnete durchschnittliche Lebensdauer auf die unbeträchtliche Zahl von siebenundvierzig Jahren zusammenschrumpft. Diese hier jedoch hatten es gelernt, während ihres Schlafes mehr zu sein als bestenfalls die Beute irgendeines träumenden Scheinlebens. Sie wirkten durch ihren formenden Geist, während sie ohne Bewußtsein zu sein schienen, nicht minder auf das Geschehen ein, als würden sie wachen. Sie lebten daher die hundertachtzig oder zweihundert Jahre ihres Erdenwandels ohne Abzug.
Ehrfurchtergriffen und kaum wagend zu atmen, vertiefte ich mich jetzt in das mondensanft leuchtende Gesicht des hohen Schläfers. Ureinst, in den Anfängen der Menschheit, einen Schläfer zu überraschen, das war stets eine sehr geschämige Sache gewesen. Davon gibt uns schon die biblische Geschichte Kunde, denn die Söhne Noahs überraschten diesen im weinbeschwerten, unruhigen Nachmittagsschlaf, wobei sie den Vater verspotteten und in unerhörtem, aber sehr charakteristischem Frevel seine Scham entblößten. Das soll bedeuten, daß der alte Schlaf (der Schlaf meiner Leser und der meinige) etwas war, in dem das Verhüllte aufgedeckt wurde, das uns so wohlbekannte „Unbewußte“, die wüste Vegetation, der Dschungel, das säuische Getümmel des inneren Lebens, über welches der Mensch nicht nur nicht Herr war, sondern das ihn jagte und hetzte durch das weglose Gestrüpp seiner selbst. Ach ja, jeder von uns antiken Schläfern glich dem um seine Achse bewegten noch jugendlichen Erdplaneten, im Inneren voll kochenden Magmas, außen übersät mit Millionen Pflanzenarten, über welchen Millionen Insektenarten hin und wieder taumelten, über welchen zehntausende Vogelarten sich wiegten, die hinabsahen auf bunt wogende Länder und Menschen. So reich an Vegetation, an unübersehbarem Formengewurle, an ungebahnter Unbewußtheit waren wir ureinst. — Wir sind es noch immer, meine Lieben, Gott sei Dank. Denn dieses Ureinst ist ja unser Jetzt. Wo meine Hand schreibt, da ist dieses Jetzt, wenn auch mein sich rückerinnernder Geist dem Jetzt um Jahrzehntausende vorausflügelt. — Dort aber, wo mein sich rückerinnernder Geist der Zeit vorausflügelt, hatte der Erdball selbst sich verändert. Er war eingeebnet und plan geworden. Es gab keine Berge und keine Vögel mehr. Es gab nur eine einzige Menschenrasse, und sogar die Hundeschaft hatte die Natur zu einer Generalsorte hinunterrationiert. Der Prozeß der Verkargung, den der Erdplanet, selbst ein belebtes Wesen, durchgemacht hatte, war zugleich ein Prozeß der Abstraktion, Abstraktion aber, Überwindung der Erfahrungsfülle durch den Begriff, ist Vergeistigung. Bei dem Prozeß der Abstraktion, der Vergeistigung des Erdplaneten, hatte auch der Mensch mitgehalten. Das heißt nicht gerade, daß er gescheiter geworden wäre; Sophistes Io-Sum und Io-Clap waren sogar viel weniger gescheit und auch denkschwächer als zum Beispiel Aristoteles oder der Aquinate. Das Reich des Unbewußten im Menschen aber war schmäler und gebahnter, und er schlief einen andern Schlaf.
Der hohe Herr dort, der seinen Namen bei der Investitur hatte drangeben müssen, schlief einen Schlaf von Alabaster, so dünn und durchsichtig lag auf seinem Gesicht eine Schicht von anwesender Abwesenheit. Unter dieser diaphanen Schicht schien er in einem Höchstgrad gelassener Konzentration an der Seele der Welt und an seiner eigenen Seele zu arbeiten. Es ist noch jetzt, in der Erinnerung, ein unvergeßlich bewundernswerter Anblick für mich. Selbst Bräutigam Io-Do, der sich vor dem Denkmal des Letzten Krieges der Drohung vermessen hatte, er werde den Welthausmeier persönlich wecken, stand versunken da und schwieg wie auf Zehenspitzen. Aus einem solchen Schlafe voll tief- und weitblickendster Überwachheit mußte niemand geweckt werden, das sah man. Hinter dem Kopfende des Lagers standen СКАЧАТЬ