Название: Der Fall Özil
Автор: Dietrich Schulze-Marmeling
Издательство: Bookwire
Жанр: Сделай Сам
isbn: 9783730704332
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Ein Jahr nach seinem Debüt begründete Özil seine Entscheidung für die DFB-Elf in einem Interview mit Mike Glindmeier so: „Ich lebe in dritter Generation in Deutschland und habe meine ersten Länderspiele in den U-Nationalmannschaften für Deutschland absolviert, und daher war es für mich einfach klar, dass ich für Deutschland spiele.“ Auf die Frage, was ihm besonders an der Türkei gefalle und was er an Deutschland besonders möge, antworte Özil: „Die deutsche Disziplin mit den positiven südländischen Charakterzügen ergibt meiner Meinung nach eine ideale Mischung.“ Ob er der These zustimmen würde, dass Fußball eine der effektivsten Integrationsmöglichkeiten ist? „Auf jeden Fall.“ Den türkischen Fans hatte er längst verziehen: „Sie sind extrem fußballverrückt – im positiven Sinne. Am Anfang haben natürlich einige überreagiert, aber das hat sich schnell gelegt. Sie respektieren meine Entscheidung und unterstützen mich weiterhin.“ Özil lobte die Antirassismus-Politik des DFB: „Ich denke, dass es weltweit einzigartig ist, was der DFB bisher getan hat. Die vielen Aktionen gegen Rassismus haben gezeigt, dass der DFB hier auf dem richtigen Weg ist. Diesen sollte der Verband konsequent weitergehen.“
„Was Özil macht, ist einzigartig“
Jogi Löw war ein großer Fan des Talents: „Mesut hat überragende Fähigkeiten, wie kaum ein anderer Spieler auf der Position. Er ist für uns extrem wertvoll. Diese Technik und diese letzten Pässe sind einfach genial.“ Für den Bundestrainer war Özil ein zentraler Baustein seiner Fußballphilosophie: weg von den sogenannten „deutschen Tugenden“, die eher Sekundärtugenden waren. Hin zu mehr Spiel im deutschen Spiel. Was nicht nach dem Geschmack aller Fans war. Der Wert des Spielers Özil blieb vielen von ihnen verschlossen.
Für Özil änderte Löw sogar seine taktischen Überlegungen. Der Bundestrainer wollte zunächst mit zwei Stürmern spielen, in einem 4-4-2-System ohne echten Spielmacher hinter den Spitzen. Nun verzichtete Löw auf einen Stürmer und übergab dafür Özil die Rolle eines zentral und offensiv operierenden Mittelfeldspielers, einer klassischen „Zehn“.
Bei der WM 2010 in Südafrika hatten elf der 23 Spieler des deutschen Kaders einen Migrationshintergrund: Dennis Aogo, Jérôme Boateng, Serdar Tasci, Sami Khedira, Marko Marin, Mesut Özil, Piotr Trochowski, Cacau, Mario Gomez, Miroslav Klose und Lukas Podolski. Özil hinterließ bei seinem ersten WM-Turnier einen starken Eindruck. Franz Beckenbauer schwärmte: „Was Özil macht, ist einzigartig.“ Die „Süddeutsche Zeitung“ schrieb: „Der 21-jährige Mesut Özil ist der geheimnisvollste Fußballer, den Deutschland vermutlich je gesehen hat. Dieses Fußball-Deutschland ist es ja gewohnt, breitbrüstige Führungsspieler zu beherbergen, giftige Terrier oder eiskalte Bomber. (…) Fuß-ball-Deutschland hat sich seit mehr als einem Jahrzehnt nach einem Spieler wie Mesut Özil gesehnt. Es hatte ja mal Männer, die mit dem Ball was anfangen konnten, Häßler, Schuster, Netzer, Walter. Jetzt heißt der Mann, der im deutschen Mittelfeld den Ball bekommen sollte, Özil.“
Deutschland wurde Dritter, musste aber in der Gruppenphase nach einem 4:0-Sieg gegen Australien und einer 0:1-Niederlage gegen Serbien zunächst mächtig zittern. Im letzten Vorrundenspiel besiegte die DFB-Elf dann Ghana mit 1:0. Torschütze: Mesut Özil, der aus 18 Metern mit links ins Toreck traf. Die in Skopje im ehemaligen Jugoslawien geborene Schauspielerin Nermina Kukic erinnerte sich acht Jahre später in der Wochenzeitung „Der Freitag“: „Mesut Özil schoss bei der WM im Jahre 2010 das erste Tor eines Gastarbeiterkindes für die deutsche Fußballnationalmannschaft. Noch nie zuvor hatte es ein Gastarbeiterkind in die deutsche Nationalmannschaft geschafft. Und er schoss dieses Tor. Und ich stand in München im Restaurant ‚Reitschule‘ und habe geweint und geweint und gejubelt und geweint. Und es war, als hätte ich dieses Tor geschossen.“
Gegen die Afrikaner und bei den folgenden spektakulären Begegnungen mit England (4:1) und Argentinien (4:0) gehörte Özil zu den besten deutschen Akteuren. Die Welt zeigte sich begeistert von der neuen deutschen Fußballkultur. Özil stand bei allen sieben Begegnungen auf dem Platz.
Nach der WM wechselte Özil zu Real Madrid, wo Trainer José Mourinho später von ihm schwärmte: „Özil ist einzigartig. Es gibt keine Kopie von ihm, nicht mal eine schlechte. Er ist der beste Zehner der Welt. Jeder liebt ihn und sieht in ihm etwas von Luís Figo und Zinédine Zidane.“ Zidane war das Vorbild des jungen Özil gewesen.
Allerdings sprach Mourinho auch ein Defizit an: Özils Zweikampfverhalten. In der Halbzeitpause eines Meisterschaftsspiels gegen Deportivo La Coruña wurde der Spielmacher von seinem Trainer heftig kritisiert. Für Özil war es „der wichtigste Anschiss meines Lebens“, denn anschließend begann er sich „radikal zu hinterfragen, wie ich es zuvor nie getan hatte“.
Seit dem Beginn seiner Profikarriere war seine Körpersprache ein permanentes Thema. So natürlich auch während der WM 2018. Jérôme Boateng brach eine Lanze für seinen Kollegen: „Mesut hat seinen Spielstil und seine Körpersprache nicht seit gestern. Er ist ein Künstler am Ball, kein Kämpfer in der Abwehr wie ich. Vielleicht kommt er deswegen manchmal falsch rüber, aber das heißt nicht, dass er nicht will oder mit Absicht Fehler begeht.“
Fotosession mit der Kanzlerin
Am 8. Oktober 2010 empfing die Nationalelf in der Qualifikation zur EM 2012 die Türkei. Spielort war das Berliner Olympiastadion, das sich an diesem Freitagabend fest in der Hand der Fans der Türkei befand. Die komplette Westkurve des Olympiastadions war in Rot gehüllt, aber nicht nur hier waren die Augen auf Mesut Özil gerichtet. Deutschland besiegte die Türkei durch Tore von Miroslav Klose und Mesut Özil hochverdient mit 3:0. Die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ schrieb in ihrem Spielbericht: „Zweimal bereitet Özil exzellente Möglichkeiten vor. (….) Das Beste hob sich Özil bis zum Schluss auf. Der in der zweiten Halbzeit großartige Lahm verschaffte dem Spieler des Tages selbst einmal freie Bahn – und Özil blieb so cool, wie man sich das nur wünschen kann. Er schob den Ball an Torwart Demirel vorbei zum 2:0.“ Die türkischen Fans hatten Özil bei jeder Ballberührung gnadenlos ausgepfiffen. Aber: „Pfiffe lassen Özil kalt“, meldete ntv.de. Die „Bild“-Zeitung wusste: „Es war für ihn eines der schwersten Spiele seiner Karriere! Zum ersten Mal spielt Mesut Özil (21) gegen die Türkei. Das Land, aus dem seine Familie stammt.“ Trotz der Pfiffe habe „unser Mittelfeld-Star wieder einmal im Deutschland-Trikot brilliert“. Özil sei „der Mann des Abends“ gewesen. Nach seinem Tor habe Özil auf einen ausgelassenen Torjubel verzichtet. „Er lächelt nur kurz, zwinkert seinen Mitspielern zu, breitet verhalten die Arme aus.“ Die türkischen Spieler verhielten sich anders als ihre Fans. Özil: „Ich habe bei keinem meiner Gegenspieler Verärgerung gespürt, weil ich mich für Deutschland entschieden habe. Der türkische Mannschaftskapitän Emre kam nach dem Spiel zu mir und wollte das Trikot mit mir tauschen. Das hat mich sehr gefreut.“
Nach dem Spiel suchte Bundeskanzlerin Angela Merkel zusammen mit Bundespräsident Christian Wulff, dessen Tochter Annalena sowie Regierungssprecher Steffen Seibert die deutsche Kabine auf. Wulff hatte einige Tage zuvor aus Anlass des Tags der Deutschen Einheit eine bemerkenswerte Rede gehalten, aus der anschließend vor allem eine Passage zitiert wurde: „Zuallererst brauchen wir aber eine klare Haltung: ein Verständnis von Deutschland, das Zugehörigkeit nicht auf einen Pass, eine Familiengeschichte oder einen Glauben verengt, sondern breiter angelegt ist. Das Christentum gehört zweifelsfrei zu Deutschland. Das Judentum gehört zweifelsfrei zu Deutschland. Das ist unsere christlich-jüdische Geschichte. Aber der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland.“ Dass der Islam zu Deutschland gehöre, sahen und sehen viele anders. Bis heute hält sich das Gerücht, dass der Bundespräsident wegen dieser Aussage von der „Bild“-Zeitung „abgeschossen“ wurde.
Merkel hatte ihren Kabinenbesuch zuvor mit Nationalmannschafts-Manager Oliver Bierhoff abgesprochen. DFB-Boss Theo Zwanziger wusste indes nichts davon. In der Kabine schüttelte Merkel dem halbnackten Özil die СКАЧАТЬ