Lebenskunst nach Leopardi. Группа авторов
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      Unbeschadet der spezifischen Sicht der Geschlechterdialektik2, die hier zutage tritt, zeigen diese Ausführungen zumal, wie sehr es laut Leopardi gilt, die «interessi […] propri» [«eigenen […] Interessen»] unnachgiebig zu verfolgen. Gegenüber Rivalen, in der Liebe wie in weltlichen Belangen schlechthin, seien die gleichen «Waffen» vonnöten, und man müsse sich seinen Weg über die Körper der bezwungenen Kontrahenten hinweg bahnen. «La calunnia» [«die Verleumdung»] und «il riso» [«das Gelächter»] fungieren dabei als die wichtigsten Angriffsmittel überhaupt. Die durchweg martialische Diktion gibt in diesem Fall den Blick frei auf eine mögliche Aporie von Leopardis Lebenskunst. Denn das hier geforderte Verhalten des Lebenskünstlers ist nicht dazu bestimmt, sich in den Fährnissen einer destruktiven Gesellschaft ohne größeren Schaden zu bewegen. Es ist vielmehr ein Verhalten, das eigentümlicherweise gerade das reproduziert, was die Negativität der Gesellschaft ja laut Leopardi im Innersten ausmacht und diese als inakzeptables Modell der Autodestruktion diskreditiert3. Wäre somit der Lebenskünstler im Grenzfalle nichts anderes als ein in die soziale Selbstzerfleischung verstrickter Jedermann und kein «uomo civile» (LIV, 99 [«gesitteter Mensch»])?

      Pensiero LXXV ist zweifellos ein Ausnahmefall in der variationsreichen Sequenz der moralistischen Rezepturen Leopardis, die den propagierten «uso del mondo» nicht als Synonym des in der Regel ja entschieden bekämpften Missbrauchs der Welt begreifen. Doch der Pensiero lässt sich nicht ausblenden. Im Grunde kann ihm entnommen werden, wie schmal der Grat ist zwischen selbstgewisser Nutzbarmachung einer bedrückenden Welt und dem unvermittelten Mitwirken an dem, was diese Bedrückung im Kern erklärt. Die «arte del vivere» wäre damit im Sonderfall keine anti-pessimistische Lebensform, sondern würde, in paradoxer Weise und kongenial, die pessimistisch stimmenden Verhältnisse zum eigenen Vorteil fortschreiben. Dass das Paradoxon für die Denkweise in den Pensieri konstitutiv ist, legt Leopardi in anderem Zusammenhang offen, wenn er die «sembianza di paradosso» (XCVII, 146 [«Züge des Paradoxes»]) in seiner Argumentation hervorhebt. Doch im Allgemeinen handelt es sich dabei darum, schlüssige Denkmuster in verstörender Weise abzuwandeln, so etwa, wenn in Pensiero LVII (103) zu lesen ist: «Gli uomini si vergognano, non delle ingiurie che fanno, ma di quelle che ricevono. Però ad ottenere che gl’ingiuriatori si vergognino, non v’è altra via, che di rendere loro il cambio»4 [«Die Menschen schämen sich nicht der Beleidigungen, die sie praktizieren, sondern derer, die sie erhalten. Um jedoch zu erreichen, dass die Beleidiger sich schämen, gibt es keinen anderen Weg, als es ihnen in gleicher Münze zurückzuzahlen»].

      Es liegt nahe, das Paradoxon bei Leopardi nicht zuletzt als den Versuch zu begreifen, der einförmigen Logik deterministischen Denkens über den sprachlichen Gestus wenn nicht zu entrinnen, so sie zumindest doch momentan zu unterlaufen. Diese ludische Komponente erweist sich mitunter als dazu geeignet, einer aufkeimenden anti-pessimistischen Mentalität besonderen Nachdruck zu verleihen. Die epistemische Statik im Hinblick auf das insgesamt unterstellte Menschenbild sieht sich dann schlaglichtartig durchbrochen. Indem die Negativität menschlichen Verhaltens im des Öfteren paradox anmutenden Handeln des Lebenskünstlers teilweise ins Positive gewendet wird, könnte sich eine vorsichtige Öffnung zu einer historischen – und damit evolutiven – Anthropologie abzeichnen.

      Ein plausibles Argument für das implizite Anzweifeln des rigorosen Determinismus der menschlichen Natur ist indessen auch der Umstand, dass die Lebenskunst sensu strictu nur dort ansetzen kann, wo sich eventuelle Lücken im deterministischen Gefüge offenbaren. Demnach weist die menschliche Natur möglicherweise doch eine gewisse Variabilität auf, unterliegt sie kleineren, aber nicht sprunghaften Veränderungen, ganz im Sinne des Linnéʼschen Axioms von Natura non facit saltus5. Der zweifellos ungewisse, doch nicht kategorisch auszuschließende Ausblick auf einen zuversichtlicher gestimmten Leopardi lässt sich zudem durch ein weiteres Argument plausibel machen. Denn nicht zuletzt gilt es für den Lebenskünstler ja, im Zuge der von Menschenkunde geleiteten Optimierung individueller Existenz, bei der Suche nach den Lücken im negativen Kausalzusammenhang der Lebensumstände sich nicht zuletzt auch gegen die eigene Natur in ihrem deterministischen Verständnis zu verteidigen. Dies impliziert per se einen leisen Zweifel an einer homogenen Naturauffassung.

      Dennoch kann das Streben nach einem besseren Leben nicht umhin, im praktischen Vollzug zugleich das Bewusstsein der negativ verstandenen existentiellen Grundproblematik – und damit auch des persönlichen Involviert-Seins in diese – wach zu halten. Es ist dies ein Balanceakt, der offen lässt, nach welcher Seite hin die Bewegung am Ende erfolgt: zum Festhalten am Prinzip schierer Negativität der menschlichen Natur oder zur leisen Skepsis gegenüber dessen uneingeschränkter Gültigkeit.

      Zumindest eines zeichnet sich indessen ab: Leopardis Pessimismus darf, was seinen oft behaupteten überzeitlichen Geltungsanspruch betrifft,6 in Hinsicht auf die Pensieri mit einem Fragezeichen versehen werden. Nicht zuletzt Leopardi selbst scheint seine Leserschaft diskret dazu anzuleiten. Man könnte darin sogar einen Anflug von Optimismus wahrnehmen.

      Literatur

      Gracián, Baltasar: «Oráculo Manual y Arte de prudencia», in: id.: Obras completas. Edición, introducción y notas de Santos Alonso. Madrid: Cátedra 2011, 339–430.

      Guicciardini, Francesco: «Ricordi», in: id.: Opere. A cura di Vittorio De Caprariis. Milano / Napoli: Ricciardi 1953, 95–144.

      Hobbes, Thomas: Opera philosophica quae latine scripsit Omnia […]. III. Leviathan, sive de materia, forma, et potestate civitatis ecclesiasticae et civilis. Ed. by William Molesworth. Second Reprint. Aalen: Scientia-Verlag 1966 [Nachdruck der Ed. London 1841].

      La Rochefoucauld, François de: Maximes. Suivis des Réflexions diverses, du Portrait de La Rochefoucauld par lui-même et des Remarques de Christine de Suède sur les Maximes. Éd. de Jacques Truchet. Éd. revue et augmentée. Paris: Garnier 1967.

      Leopardi, Giacomo: «Memorie e disegni letterari. Elenco di letture», in: id.: Tutte le opere. Vol. I. Con introd. e a cura di Walter Binni, con la collab. di Enrico Ghidetti. Firenze: Sansoni 1969, 367–377.

      —: Operette morali. A cura di Giorgio Ficara. Con un saggio di Andrea Zanzotto. Milano: Mondadori 2016.

      —: Pensieri. A cura di Antonio Prete. Milano: Feltrinelli 42014.

      —: Tutte le opere. Vol. III. Le Lettere. A cura di Francesco Flora. Milano: Mondadori 51970 (11949).

      —: Zibaldone. Ed. integrale diretta da Lucio Felici. Roma: Newton & Compton 1997.

      Linnaeus, Carolus [Linné, Carl von]: Philosophia botanica in qua explicantur fundamenta botanica cum definitionibus partium, exemplis terminorum, observationibus rariorum, adjectis figuris aeneis. Lehre: Cramer 1966 (Historiae naturalis classica, 48) [Nachdruck der Ed. Stockholm 1751].

      Machiavelli, Niccolò: «Discorsi sopra la prima deca di Tito Livio», in: id.: Il Principe e le opere politiche. Introduzione di Delio Cantimori. Milano: Garzanti 1976, 99–459.

      Montaigne, Michel de: Œuvres complètes. Texte établi et annoté par Robert Barral en collab. avec Pierre Michel. Préface d’André Maurois. Paris: Seuil 1967.

      Pascal, Blaise: Pensées. Texte de l’éd. Brunschvicg. Introduction et notes par Ch[arles]-Marc des Granges. Paris: Garnier 1961.

      Schopenhauer, Arthur: Aphorismen zur Lebensweisheit. Hg. von Rudolf Marx. Stuttgart: Kröner 1968.

      Voltaire: Dictionnaire philosophique. Préface par Étiemble. Texte établi par Raymond Naves. Notes par Julien Benda. Paris: Garnier СКАЧАТЬ