Название: Nikomaus & Murmelbär
Автор: Adora Belle
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Alles Geschmackssache
isbn: 9783961921164
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Ja, vermutlich, denke ich mir meine Erwiderung in seltener Eintracht mit meinem persönlichen Dämon. Und witzig ist er auch noch! Man denke nur an dieses gelungene Wortspiel: Ernährungsumstellung und schmackhaft machen!
„Ich glaube nicht, dass das hier irgendwas zur Sache tut“, erkläre ich entsprechend kühl.
Alexander erwidert meinen Blick stumm, wirkt regelrecht nachdenklich, und ich merke, dass Niko neben mir ganz unruhig wird. Vermutlich sieht er schon seine Felle wegschwimmen. Soll mir aber egal sein, ich wollte schließlich von Anfang an diesen Scheiß nicht machen. Hätte ich mich doch bloß nicht von ihm dazu überreden lassen!
„Ähm, vielleicht … sollten wir diesen Punkt … Ähm, ich weiß nicht, erst mal überspringen oder so?“, stottert er jetzt, während ich schon drauf und dran bin, die ganze Farce zu beenden, indem ich einfach verschwinde. Doch plötzlich kommt Leben in Alexander. Er lehnt sich nach vorn und greift in seine Gesäßtasche, holt seinen Geldbeutel raus und klappt ihn auf. Ich erwarte halb, dass er einen Schein auf den Tisch legt oder der Bedienung winkt, um zu zahlen und dann einfach abzuhauen, aber stattdessen zieht er ein reichlich mitgenommen wirkendes Foto aus einem der Fächer und legt es zwischen uns auf den Tisch.
„Das war ich“, sagt er und deutet darauf. „Mit achtzehn. Zu der Zeit wog ich 125 Kilo und wurde von allen in meiner Klasse nur Fettsack, Schwabbel oder Tonne genannt. Damals hatte ich schon unzählige Diätversuche hinter mir und jedes Mal hat anschließend der Jo-Jo-Effekt ein bisschen härter zugeschlagen. Das Foto hier ist zwei Wochen vor einem Suizidversuch entstanden.“ Er grinst schief.
„Na ja, Suizidversuch ist ein großes Wort für das, was ich gemacht habe. Ich wollte halt einfach nicht mehr so weiterleben und bin eines schönen Tages aufs Dach meiner Schule gestiegen, um runterzuspringen. Aber als ich dann an der Kante stand und runterschaute, hab ich plötzlich Angst bekommen. Um es kurz zu machen: Ich bin nicht gesprungen, aber ich hab mir selbst ein Versprechen gegeben. Ich hab mir gesagt, dass ich mir noch eine letzte Chance gebe, mein Leben komplett ändere und endlich dauerhaft abnehme. Ein letzter Versuch noch, und wenn der wieder misslingt, mache ich ernst und blase mir endgültig das Licht aus.“
Er zuckt die Achseln.
„Und da ich heute hier vor euch sitze, könnt ihr euch denken, dass es tatsächlich geklappt hat. Vielleicht lag es ja daran, dass ich im Grunde gar nicht sterben wollte, keine Ahnung, auf jeden Fall hab ich diesen letzten Versuch zum ersten Mal völlig anders angefangen. Ich wollte es richtig machen und hab deshalb nicht wieder irgendeine Diät ausprobiert, die schnelle Erfolge verspricht, sondern bin als Erstes zu meinem Hausarzt gegangen. Der war sehr verständnisvoll, hat mich ausführlich untersucht und schließlich zu einer Ernährungsberatung geschickt. Von da an ging es tatsächlich nicht nur abwärts mit meinem Gewicht, sondern ich schaffte es auch, die Abnahme zu halten, indem ich meine Ernährung und meine Lebensgewohnheiten total umgekrempelt habe. Es war verflucht mühsam, keine Frage, und natürlich gab es auch Rückschläge, aber ich hab mich letzten Endes durchgebissen, bin zum Sport gegangen und habe mir irgendwann auch Unterstützung durch einen Psychologen geholt. Denn eins hab ich in dieser Zeit begriffen: Ich war nicht einfach dick, weil ich so verfressen war, sondern ich habe mit Essen versucht, andere Bedürfnisse zu befriedigen. Essen kann eine Sucht sein, so wie jede andere auch, darum hat das bei mir auch bis zu einem gewissen Punkt funktioniert. Ich hab gegessen und fühlte mich damit im ersten Moment zufrieden, aber der Effekt war nie dauerhaft. Und wie bei jedem anderen Suchtmittel hat mein Körper mit der Zeit immer mehr verlangt, also hab ich immer weitergegessen, immer mehr. Irgendwann hat es auch gar keine Rolle mehr gespielt, was es war, Hauptsache, mein Magen war voll. Das zu verstehen, das war für mich persönlich das Allerwichtigste und ich denke, ohne diese Erkenntnis wäre ich heute immer noch fett. Oder eben tot.“
Er schweigt einen Moment und fügt dann hinzu: „Das war es, worauf meine Frage abzielte. Denn wenn es bei dir auch so ist, dass du irgendwelche Dinge mit Essen zu kompensieren versuchst, dann ist eine Umstellung der Ernährung und Sport nur die halbe Miete. Ich würde dich zwar trotzdem coachen, aber nur unter der Bedingung, dass du parallel dazu auch die anderen Baustellen angehst. Sonst rutschst du über kurz oder lang zurück in die Spirale der schlechten Gewohnheiten und nimmst wieder zu.“
Verblüfft starre ich ihn an. Okay, das hatte ich ehrlich nicht erwartet und das Wort „dumm“ in Verbindung mit Alexander streiche ich wohl auch besser aus meinem Bewusstsein. Der Typ ist weit weniger oberflächlich, als ich erwartet hatte, und vage dämmert mir die unbequeme Erkenntnis, dass ich selbst offenbar auch nicht frei bin vom Schubladendenken.
Entsprechend verlegen kratze ich mich am Kinn, sehe noch mal auf das Foto und sage: „Na ja, ich denke, bei mir ist es eher so, dass ich einfach ein Genussmensch bin. Ich esse halt gern. Gut, ich hab einen Job, der mich manchmal ziemlich stresst, aber dass ich da mit Essen irgendwas kompensiere … Ne, also das Gefühl hab ich nicht. Okay“, schränke ich gleich darauf ein, „gelegentlich passiert es schon mal, dass ich denke, ich müsste mir was gönnen, zum Beispiel, wenn der Dienst echt Scheiße war oder sonst irgendwas. Aber dann stelle ich mich nicht in die Küche, um mir einfach irgendwas zu essen zu machen, damit der Magen schnell voll wird, sondern eher, weil ich mich beim Kochen total gut entspanne.“
Alexander hat aufmerksam zugehört und nickt jetzt lächelnd.
„Das ist schon mal gut. Und früher? Wie war das da? Du hast vorhin gesagt, du wurdest ungefähr ab der Mittelstufe Klößchen genannt, hab ich das richtig verstanden?“
„Ja. Schon“, gebe ich zu. „Da gab es tatsächlich eine Phase, wo ich mich ziemlich beschissen gefühlt habe und dass die anderen mich immer wegen meiner Figur gedisst haben, hat es nicht gerade besser gemacht. Im Gegenteil. Aber zum Glück kam dann ja Niko in meine Klasse und hat nicht lockergelassen, bis wir Freunde geworden sind. Ab da war es einigermaßen erträglich für mich.“
„Ja, nicht wahr?“ Niko strahlt übers ganze Gesicht und klimpert mit den Wimpern in Richtung seines Schwarms.
„Freut mich, das zu hören.“ Alexander nickt ihm zu. „Und dass du, zumindest was das angeht, keine dieser oberflächlichen Arschkrampen bist.“
Könnte man Nikos anschließendes Strahlen zur Gewinnung von Energie nutzen, wäre der Kohle- und Atomausstieg längst Geschichte. Allerdings dauert das nur einen Moment. Dann scheint der „zumindest was das angeht“-Teil von Alexanders Satz in seinem Kopf anzukommen und das Grinsen erlischt schlagartig.
Hm. Scheint ja fast so, als wäre dieser Kerl wirklich mehr als bloß ein hübsches Gesicht, Muskeln und Sixpack. Wobei …
Ich lasse meinen Blick über Alexander gleiten und stelle fest, dass das Gesamtpaket – nachdem ich jetzt weiß, dass er wohl doch kein arrogantes, von sich selbst eingenommenes Arschloch ist – eigentlich sehr reizvoll auf mich wirkt. Ich glaube zwar, kaum ein schwuler Mann würde ein Sahnestück wie diesen Alexander ernsthaft von der Bettkante schubsen wollen, aber die Tatsache, dass er nicht nur ausnehmend attraktiv ist, sondern noch dazu ganz offensichtlich Empathie und Intelligenz besitzt, erhöht seinen Attraktivitätsfaktor mindestens noch um das Doppelte. Für mich jedenfalls.
Aber schon im nächsten Moment rufe ich mich energisch zur Ordnung. Es gibt einfach so viele gute Gründe, Alexander nicht spontan auf irgendein Podest zu stellen, dass ich kaum weiß, wo ich da anfangen soll.
Vielleicht der Einfachheit halber damit, dass ich den Typen doch eigentlich überhaupt nicht kenne, und ihn im Geist mit Heiligenschein und Engelsflügeln auszustaffieren, bloß СКАЧАТЬ