Название: Honoré de Balzac – Gesammelte Werke
Автор: Honore de Balzac
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Gesammelte Werke bei Null Papier
isbn: 9783962815226
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»Du bist langweilig wie ein Zusatzantrag, der im Parlament diskutiert wird«, warf Émile ein.
»Kann sein«, erwiderte Raphael ohne Murren; »so will ich dir, um deinen Ohren nicht allzuviel zuzumuten, die ersten siebzehn Jahre meines Lebens schenken. Bis dahin habe ich gelebt wie du, wie tausend andere, das Leben eines Schülers, dessen eingebildete Leiden und wirkliche Freuden unsere Erinnerung entzücken und nach dessen Fastenspeise unser verwöhnter Gaumen stets zurückverlangt, solange wir sie nicht von neuem genossen haben: schönes Leben, dessen Arbeiten uns verächtlich scheinen und das uns doch zu arbeiten gelehrt hat …«
»Komm zum Drama!« sagte Émile in einem halb komischen, halb klagenden Ton.
»Als ich das Collège verlassen hatte«, erwiderte Raphael und bekundete mit einer entschiedenen Handbewegung das Recht fortzufahren, »unterwarf mich mein Vater einer strengen Disziplin, er logierte mich in einem Zimmer ein, das neben seinem lag. Ich ging um neun Uhr abends zu Bett und stand um fünf Uhr morgens auf; nach seinem Willen sollte ich gewissenhaft die Rechte studieren. Ich besuchte die juristische Fakultät und arbeitete gleichzeitig bei einem Advokaten; aber die Gesetze von Zeit und Raum wurden so peinlich auf meine Ausgänge, meine Arbeiten angewendet, und mein Vater verlangte solch genaue Rechenschaft über …«
»Was geht denn mich das an?« unterbrach ihn Émile.
»Nun denn, hol dich der Teufel!« erwiderte Raphael. »Wie kannst du meine Gefühle begreifen, wenn ich dir nicht all die unbedeutenden Umstände schildere, die meine Seele beeinflußten, mich furchtsam werden ließen und mich lange in der kindlichen Einfalt des Jünglings befangen hielten? Bis zu meinem einundzwanzigsten Jahr hatte ich mich einem Despotismus zu beugen, der so hart war wie eine Klosterregel. Um dir das ganze Elend meines damaligen Lebens begreiflich zu machen, genügt es vielleicht, dir meinen Vater zu beschreiben: Er war ein großer, dürrer, engbrüstiger Mann mit einem bleichen Gesicht, scharf geschnitten wie eine Messerklinge, kurz angebunden, zänkisch wie eine alte Jungfer und kleinlich wie ein Bürovorsteher. Seine Vaterwürde schwebte drohend über meinen schelmischen und fröhlichen Gedanken und hielt sie wie unter einer bleiernen Kuppel gefangen. Wenn ich ihm ein liebevolles, zärtliches Gefühl bezeigen wollte, behandelte er mich wie ein Kind, das eine Dummheit sagen will; ich fürchtete ihn weit mehr als früher unsere Schulmeister; in seinen Augen war ich immer acht Jahre alt. Ich glaube ihn noch vor mir zu sehen. In seinem kastanienbraunen Überrock, in dem er sich geradehielt wie eine Osterkerze, sah er wie ein Bückling aus, der in das rötliche Papier eines Pamphlets gewickelt ist. Trotzdem liebte ich meinen Vater: im Grunde war er gerecht. Vielleicht hassen wir die Strenge dann nicht, wenn sie durch einen aufrechten Charakter, durch reine Sitten gerechtfertigt und geschickt mit Güte verbunden wird. Obgleich mein Vater nie von meiner Seite wich, mir bis zu meinem zwanzigsten Lebensjahr keine zehn Francs zu meiner Verfügung ließ, zehn elende, lumpige Francs, ein unermeßlicher Reichtum, deren vergebens erhoffter Besitz mich maßlos beglückt hätte, so suchte er mir wenigtens einige Zerstreuungen zu verschaffen. Nachdem er mir monatelang ein Vergnügen versprochen hatte, führte er mich in die Bouffons, in ein Konzert, auf einen Ball, wo ich eine Geliebte zu finden hoffte. Eine Geliebte! Das hieß für mich Unabhängigkeit. Aber verschämt und schüchtern, wie ich war, weder die Sprache der Salons noch irgend jemanden dort kannte, kehrte ich stets mit demselben unerfahrenen, von unerfüllten Wünschen übervollem Herzen wieder nach Hause zurück. Am nächsten Morgen mußte ich dann, von meinem Vater wie ein Schwadronspferd an der Kandare gehalten, von früh an erst zu einem Advokaten, dann in die Fakultät, dann in den Justizpalast. Hätte ich versucht, von dem einförmigen Weg, den mein Vater mir vorgezeichnet hatte, abzuweichen, hätte ich seinen Zorn auf mich geladen; er hatte mir gedroht, mich bei meinem ersten Vergehen als Schiffsjunge nach den Antillen einzuschiffen. Wenn ich dennoch gelegentlich wagte, mich dieser Gefahr auszusetzen, auf ein oder zwei Stunden, für irgendein harmloses Vergnügen, so stand ich furchtbare Angst dabei aus. Stell dir vor, die schwärmerischste Phantasie, das liebevollste Herz, das zärtlichste Gemüt, den poetischsten Geist immerfort dem unnachgiebigsten, sauertöpfischsten, kältesten Menschen der Welt ausgesetzt; kurzum, verheirate ein junges Mädchen mit einem Skelett, und du wirst die merkwürdigen Szenen eines solchen Daseins verstehen, die ich dir nur andeuten kann: Fluchtpläne, die beim Anblick meines Vaters zunichte wurden, Verzweiflungsausbrüche, die der Schlaf besänftigte, unterdrückte Wünsche und finstere Schwermut, die in der Musik Linderung fanden. Ich verströmte mein Unglück in Melodien. Mozart oder Beethoven waren häufig meine verschwiegenen Vertrauten. Heute muß ich lächeln, wenn ich mich all der Vorurteile erinnere, die mein Gewissen in dieser Periode der Unschuld und Tugend beunruhigten. Den Fuß in eine Gaststätte zu setzen, hätte ich für mein Verderben gehalten. Ein Café malte ich mir als einen Ort des Lasters aus, wo die Männer ihre Ehre einbüßen und ihr Vermögen aufs Spiel setzen. Geld beim Spiel zu riskieren, dazu hätte ich freilich erst welches haben müssen.
Oh! selbst wenn es dich einschläfern sollte, will ich dir doch eine der schrecklichsten Freuden meines Lebens erzählen, eine jener Freuden, die sich mit Krallen in unser Herz bohren, wie ein glühendes Eisen in die Schulter eines Sträflings. Ich war auf dem Ball des Duc de Navarreins, einem Cousin meines Vaters. Damit du meine Situation völlig begreifen kannst, mußt du wissen, daß ich einen schäbigen alten Rock trug, plumpe Schuhe, eine Kutscherkrawatte und abgetragene Handschuhe. Ich hatte mich in eine Ecke gestellt, um nach Herzenslust Eis essen zu können und die hübschen Frauen anzusehen. Mein Vater entdeckte mich. Aus einem Grund, den ich niemals erraten habe, so sehr verblüffte mich dieser Vertrauensakt, gab er mir seine Börse und seine Schlüssel zum Aufbewahren. Zehn Schritte von mir entfernt spielten einige Herren. Ich hörte das Gold klingen. Ich war zwanzig und von dem Wunsch beseelt, einmal einen ganzen Tag lang den Lastern meines Alters zu huldigen. Meine Phantasie nährte Sehnsüchte, wie man ihresgleichen wohl kaum in den Gelüsten der Kurtisanen oder in den Träumen der jungen Mädchen СКАЧАТЬ