Название: Culturstudien
Автор: Wilhelm Heinrich Riehl
Издательство: Bookwire
Жанр: Документальная литература
isbn: 9783849633912
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Die alten Kalendermacher waren unstreitig meist die Hefe der damaligen schreibenden Welt, und das will viel sagen; sie waren aber doch so einflußreich wie unsere besten heutigen Volksschriftsteller. Noch in der ersten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts war der Kalendermacher eine geheimnißvolle, magische Person, ein halber Hexenmeister. Ja man kann sagen, diese Leute, die in ihrer Mehrheit eine Körperschaft von miserablem literarischem Gesindel bildeten, sind die letzten »Seher« des deutschen Volkes gewesen. Darum sagt der Bauer heute noch, wenn Einer träumend und sinnend dreinschaut, man meint »er mache Kalender.«
Als der poesiereiche uralte Volksaberglaube von der nüchternen gebildeten Welt des achtzehnten Jahrhunderts nicht mehr recht verdaut wurde und in dem gelehrten Bücherwesen nirgends mehr eine Freistatt fand, da verbarg er sich zu allerletzt noch in den grauen Löschpapierblättern der Volkskalender.
Aus demselben Grund, aus welchem weise Frauen zu Ariovist's Zeit den Germanen geboten, daß sie nicht vor Neumond die Schlacht beginnen sollten, gebot vor hundert Jahren Magister Gaup, der Kalenderschreiber, den deutschen Bauern, daß sie vor Neumond beileibe nicht purgiren und arzneien möchten. Denn das wachsende Licht bringt Fülle und Gesundheit, das abnehmende Zerstörung und Untergang. In den alten Kalendern, die ein ganzes System solcher »Erwählungen« durchführen, werden die positiven Geschäfte (wie Säen, Pflanzen u. dgl.) überhaupt in die Zeit des wachsenden, die negativen (wie Holzfällen, Haarschneiden u. dgl.) in die des abnehmenden Mondes verlegt.
Da fühlte sich der Kalendermacher seinem Publikum gegenüber als ein Ausleger der geheimen kleinen Naturkräfte und der großen Weltgesetze. Und wie der altgermanische Seher der öffentlichen Würde des Priesters oder der privaten des Hausvaters nicht entbehren durfte, so fetzte der Kalenderschreiber vor hundert und mehr Jahren nicht leicht seinen Namen auf das Titelblatt, ohne die Beifügung hochtönender wissenschaftlicher Prädikate. Wer sich die öffentliche Würde eines Artium liberalium Magister nicht zuschreiben konnte, der schuf sich ganz eigens eine private, die seinen Einblick in »alles Wirkens Kraft und Saamen« anzeigte, als z.B.: Marcus Freund, Miraculorum Dei amator, oder Christoph Adelsheim, Art. Mathem. cultor strenuus. Oder verschmähte es Einer, dem gemeinen Mann lateinischen Sand in die Augen zu streuen, dann schrieb er sich mindestens in ehrlichem Deutsch etwa wie Jakob Holderbusch: »der göttlichen Wahrheit Liebhaber.«
In dieser selben Zeit, wo die Gesellschaft von oben herab immer aufgeklärter und nüchterner wurde, mußten die Männer der geistigen Berufe dem Volke gegenüber noch immer die Maske des Magus vorhalten um ihren Credit zu behaupten. So thaten es die Pfarrer und Ärzte, warum nicht auch die Kalendermacher? Die Charlatanerie war als eine Nothwendigkeit in der Sitte anerkannt, so lange man Perücken und Zöpfe trug, darum ist es ganz in der Ordnung, daß auch die Zöpfe der heutigen Welt noch so große Stücke auf allerlei gelehrten und amtlichen Hokuspokus halten.
Es gehörten aber auch für einen zunftgerechten Kalendermacher in der That ganz absonderliche Kenntnisse dazu – freilich theilte er sie mit manchem Schäfer und Scharfrichter – um die letzten Reminiscenzen von Astrologie, Wahrsagerei und Zeichendeuterei, deren Verständniß in diesem Zeitalter nur noch schwach fortdämmerte, mit gehöriger Sicherheit anzuwenden. Das bunte Gemisch von System und Willkür, von alter mystischer Überlieferung und neuer rationalistischer Kritik macht die Kalender des achtzehnten Jahrhunderts als Urkundenbücher des absterbenden Volksaberglaubens besonders interessant. So ist z.B. in den Tabellen, welche angeben, was aus der Farbe des beim Aderlaß abgezapften Blutes zu Prophezeien sei, der alte Aberglaube mit wirklichen physiologischen Beobachtungen und Folgerungen aufs seltsamste verwebt, und die diätetischen Regeln bekunden die instinktive Weisheit des medicinischen Volksglaubens, der eben so oft durch seine klare Erkenntnis; den Naturforscher überrascht wie durch das Helldunkel seiner uralten Symbolik den Germanisten. Bei dem sogenannte» »Aderlaßmännlein,« nämlich bei der Tabelle über die Tage, wann es gut oder schlecht zur Ader zu lassen sei, ist namentlich die altheidnische symbolische und astrologische »Erwählung« noch in ihrer vollen Reinheit beibehalten. Die Aderlaßtafel regelt sich nach dem Mondwechsel, und jeder der dreißig Tage des Mondlaufs hat seine stehende Bedeutung, die aber für alle Jahreszeiten und Monate die gleiche ist. Wer z.B. am siebenten Tage nach dem Neumond zur Ader läßt, bekommt Augenschmerzen, wer am vierten, stirbt eines jähen Todes, wer am 25. der wird klüger und verständiger. Diese Aderlaßtafel hat merkwürdig lange ihren Platz behauptet; sie ist in vielen Kalendern sogar in's neunzehnte Jahrhundert herübergeführt worden. Bei den lehrsamen rationalistischen Kalendern aus den ersten Jahrzehnten der Aufklärungsperiode macht es einen äußerst komischen Eindruck, die eifrigsten Predigten wider den Aberglauben im Texte zu lesen, während gegenüber bei den einzelnen Monatstagen noch der ganze Hokuspokus der schwarzen und rothen Erwählungs- und Vordeutungszeichen abgedruckt ist, und auf dem Titelblatt noch die astrologische Erklärung der Constellationen, und auf dem Schlußblatt die Aderlaßtafel prangt. Es erinnert dieß an die bekannte Geschichte von dem Schiff, welches in der Passagierkajüte englische Missionäre und im Güterraum Götzenbilder englischen Fabrikates nach Indien führte. So ließ man auch noch lange das Aushängeschild der Prophezeiung auf den Kalendertiteln fortbestehen, wahrend inwendig höchstens noch das Wetter prophezeit wurde, und der »Astrologische Sibyllen- und Weissagungskalender« bringt zur Zeit der französischen Revolution nur noch Orakelsprüche, wozu es der auf dem Titel prangenden Bilder der vier Sibyllen nicht bedurft hätte, wie etwa auf den blutgetränkten September 1793: »Wie lacht der Ueberfluß und welchen reichen Segen will nicht Pomona itzt vor unsre Füße legen!«
Die durchgängige Fortführung der Aderlaßtafel in der Spätzeit des achtzehnten Jahrhunderts ist übrigens auch um deßwillen beachtenswerth, weil sie eigentlich auf Lebensgewohnheiten berechnet ist, die damals im Allgemeinen kaum mehr existirten. Im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert war es ein weitverbreiteter Brauch, selbst bei dem gemeinen Mann, durch häufiges periodisches Blutabzapfen bei gesundem Leibe, durch Abführungen und Schwitzbäder sich vor Krankheiten zu schützen. Purgiren, Aderlassen und Schwitzen vertrat bei den Altvordern die Stelle unserer Landausflüge und Badereisen. Damals waren die Baderstuben öffentliche Lokale, annähernd von einer Bedeutung für den geselligen Verkehr wie jetzt die Wirthshäuser, Conditoreien und Kursäle. Man ließ sich kollegialisch schröpfen, wie man kollegialisch kneipt. In der damaligen Volkslitteratur finden wir zahllose Gleichnisse und Redebilder von dem Treiben in den Baderstuben hergenommen, und auf politisch-satyrischen Holzschnitten aus der Zeit des dreißigjährigen Kriegs sind die Fürsten häufig als Badergesellen dargestellt, die den Völkern gehörig Schröpfköpfe aufsetzen und die Ader schlagen; statt des Blutes rinnen dann Goldstücke hervor. Damals also hatte das Aderlaßmännlein in den Kalendern noch einen Sinn. Vor sechzig Jahren dagegen standen die Menschen schon längst nicht mehr so voll im Safte, daß sie sich aus bloßer Vorsicht regelmäßig Blut hätten abzapfen müssen. Gewiß war dieß wenigstens nicht nicht bei dem Mittelstande der Fall, auf welchen jene Kalender zunächst zielten, wählend sich bei vereinzelten abgeschlossenen Bauernschaften allerdings ein Nachklang der seltsamen Sitte des periodischen Aderlasses bis auf unsere Tage erhalten hat. Allein auch der Kleinbürger wollte zu unserer Großväter Zeit die altgewohnten Erwählungen der Aderlaßtafel nicht missen, obgleich er hier eigentlich gar nichts mehr zu erwählen hatte.
In der Beschreibung der Planeten, ihrer »Eigenschaften, natürlichen Zuneigungen und Bedeutungen« spielten die letzten Nachklänge der mittelalterlichen Mystik der Naturkunde in das aufgeklärte achtzehnte Jahrhundert herüber. Aber auch eine moderne Schule der Naturphilosophie hat die Qualitäten der Planeten wieder ganz ähnlich phantastisch ausgedichtet wie der Kalenderschreiber vor hundert Jahren. Dieser gibt jedem Planeten nach alter Ueberlieferung ein besonderes Temperament. Saturn ist kalt und trocken, Jupiter warm und feucht, Mars hitzig und trocken, Venus feucht und warm, Merkur warm und trocken. Dazu kommt die Sonne, die heiß und trocken, und der Mond, der kalt und feucht ist. Der Gedanke von unterschiedenen Temperamenten der Gestirne ist uralte Volkspoesie, die bis in's deutsche Heidenthum hinaufreicht. In СКАЧАТЬ