Название: Culturstudien
Автор: Wilhelm Heinrich Riehl
Издательство: Bookwire
Жанр: Документальная литература
isbn: 9783849633912
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Diese alten Kalender können uns lehren, wie ungerecht wir gegen uns selber sind, indem wir die Gegenwart beschuldigen, daß sie eine größere Kluft als je zuvor zwischen den Gebildeten und dem Volk bestehen lasse. Ein Blick auf das achtzehnte Jahrhundert zeigt das Unwahre dieser Meinung. Von den ungeheuren wissenschaftlichen und litterarischen Reformen dieser ganzen Periode spiegelt sich kaum ein leiser Schimmer selbst in jenen Kalendern, die viel mehr für den Bürger als den Bauersmann bestimmt waren. Niemand wird beim Durchblättern der ledernen zeitgeschichtlichen Annalen dieser Volksbücher ahnen, daß Lessing, Möser, Goethe, Herder, daß so viele bedeutende Philosophen und Historiker gleichzeitig ihre epochemachenden Werte geschrieben. In Styl und Inhalt bleibt sich der Kalender durch's ganze achtzehnte Jahrhundert wunderbar gleich; auch zur Zeit der französischen Revolution steht er noch bei Gottsched, wie damals auch der deutsche Kleinbürger in seinen poetischen Studien noch bei Gellert und Hagedorn stand, obgleich Schiller und Goethe, ja die Begründer der romantischen Schule in den höheren Bildungskreisen bereits das Feld behaupteten. Vereinzelte Versuche, wie von Chr. D. Schubart, für das Volk zu schreiben, zeigten vielmehr, daß zwischen dem Kleinbürger und Bauern und der gediegeneren Litteratur fast alle Anknüpfungspunkte fehlten. Abgesehen davon, daß nur litterarische Handlanger für den Volkskalender arbeiten, hielt es der Kalendermacher nicht einmal der Mühe werth, aus den Werken der besseren Autoren gelegentlich für seine Zwecke zu stehlen, obgleich doch für solche Kleinigkeiten damals noch freie Pürsch bestand. Erst viel später lernte es der Kalender von der Journalistik, aus reicher Leute Leder den Armen Schuhe zu schneiden.
Aehnlich steht es mit den Kalenderbildern, die durch's ganze achtzehnte Jahrhundert äußerst roh, kindisch und geistlos sind. Ein akademischer Künstler hätte am Hungertuche nagen müssen, um sich zu Skizzen für einen Volkskalender herabzulassen. Selbst Chodowiecki, der die Kunst der volksthümlichen modernen Charakterskizze in kleinen Federzeichnungen gleichsam neu wieder entdeckt hatte, berührte in seinen Einflüssen kaum die Sphäre dieser Kalender. Sein fleißiger Nachfolger, Heinrich Ramberg, nahm später auf ein Menschenalter die Zeichnung der Almanachs-Kupferstiche in Pacht und gewann bei der wunderbaren Fruchtbarkeit und Leichtigkeit seines Talents allerdings eine Art culturgeschichtlicher Bedeutung für die Charakteristik der feinen Welt. Allein gerade diese Almanache, die das Bedürfniß einer oberflächlichen litterarischen Unterhaltung tief in den Mittelstand herab verbreiteten, sind das schärfste Widerspiel ächter Volkslitteratur, und obgleich die Kupferstiche meist das Beste an den prunkenden Büchelchen waren, so fiel doch von ihrem ungeheuern Bilderreichthum kein befruchtender Keim in das verkommene Volkskalenderwesen. Als wir neuerdings unsere Volkskalender mit würdigeren Holzschnitten auszuschmücken begannen und auch die besten Meister es nachgerade nicht mehr unter ihrer Würde hielten, für den Kalender zu zeichnen, da konnten die Künstler von den nächst vorhergegangenen Perioden nichts lernen. Sie mußten zu Studien aus den Werken Dürers und Holbeins, der alten Niederländer und der alten Italiener zurückgreifen, ja auf die kostbaren Miniaturen des Mittelalters, wenn sie recht volksthümlich ächte Figuren und Arabesken für den Kalender erfinden wollten. Denn mögen wir auch in der modernen Volkslitteratur noch so viel Verkehrtes begonnen haben, so sind wir doch wenigstens zu der goldenen Einsicht gekommen, daß für das Volk nur gerade das Beste gut genug sei. In diesem Glauben allein werden wir's erringen, daß unsere Bildungslitteratur und Kunst auch dem Volke wieder näher zu Herzen geht.
Vor Alters gab es unter dem gemeinen Mann häufig kalenderfeste Leute wie bibelfeste. Denn der litterarische Inhalt des Kalenders, der jetzt ein zufälliger geworden, war früher ein nothwendiger; es gab zwar auch damals viele Kalender, aber nicht vielerlei wie heute; es existirte der einheitliche Begriff eines deutschen Volkskalenders, der jetzt ganz verloren ist. Der gemeine Mann konnte dem Kalenderschreiber genau nachrechnen, ob er Sitten und Bräuche, Aberglauben und Prophezeihungen richtig angegeben und angewandt, ja er wußte selber eigentlich das Meiste von vornherein auswendig, was er alljährlich im Kalender wieder las; den ganzen volksthümlichen Inhalt des Kalenders hatte er im Kopf wie die Bibel und wußte ihn auszulegen für seine persönlichen Verhältnisse: darum war er kalenderfest. Jetzt klagt man bereits, daß in unsern Volkskalendern alles mögliche Gemeinnützige abgehandelt sei, aber die gemeinnützige Belehrung über den Kalender selbst sei allezeit vergessen, während doch die Zeichen und Begriffe des Kalenders von den Wenigsten mehr verstanden würden! So erschien denn auch vor mehreren Jahren in Ulm ein Buch, betitelt »der wohlerfahrene Kalendermann,« welches bereits einem Bedürfnisse abzuhelfen glaubt, indem es das Volk belehrt über den Kalender. Vor hundert Jahren wäre eine solche Belehrung sehr überflüssig gewesen. Bibel, Gesangbuch und Kalender waren damals wirklich die drei nothwendigen und ausschließlichen Hausbücher des gemeinen Mannes; der Kalender umfaßte alle weltliche Weisheit, wie Bibel und Gesangbuch alle geistliche. Aber diese weltliche Weisheit war nur der Spiegel von des Volkes eigenen Phantasiestücken und Ueberlieferungen. Jetzt ist der Kalender ein Werkzeug der Volksbildung geworden, die von außen sich erst einzuschleichen trachtet bei dem Bauern und Kleinbürger. Darum ist er nicht mehr das einheitliche, nothwendige und ausschließliche Hausbuch. Dennoch könnte er wenigstens den Charakter der inneren Nothwendigkeit wieder gewinnen, wenn er nämlich ausgehend von der Weisheit des Volkes selber und scheinbar nur als ein Herold dessen eigenster Gedanken, dennoch den Keim einer vertieften Gesittung in sich zu bergen und so ein Lehrer des Volkes zu weiden wüßte, indem er doch scheinbar nur ein Spiegelbild desselben wäre. Der Kalenderschreiber aber, welcher dieses Kunststück verstünde, soll ein rechter Hexenmeister genannt und nicht verbrannt werden.
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