Название: Das Jahrhundert des Populismus
Автор: Pierre Rosanvallon
Издательство: Bookwire
Жанр: Социология
isbn: 9783868549850
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Ein Viktor Orbán oder ein Wladimir Putin haben sich wiederholt als Befürworter eines Bruchs mit der liberalen Demokratie präsentiert, gemäß der Annahme, dass heute ein offener Konflikt zwischen zwei konkurrierenden Auffassungen des demokratischen Projekts existiert. Auf theoretischer Ebene hat Chantal Mouffe, mit dem Appell, zu verstehen, »dass liberale Demokratie aus der Artikulation zweier Logiken resultiert, die in letzter Instanz inkompatibel sind«1, dazu aufgefordert, Demokratie nicht mehr nur mit Rechtsstaat und Verteidigung der Menschenrechte gleichzusetzen – wie es in ihren Augen der Neoliberalismus tut –, sondern das Prinzip der kollektiven Souveränität in den Vordergrund zu stellen. Daher rührt der Zusammenhang zwischen dem Streben nach populistischer Radikalisierung der Demokratie und der intellektuellen Stigmatisierung einer gesellschaftlichen und »menschenrechtlichen« Sichtweise, die beschuldigt wird, einen Kult des Individuums und der Minderheiten zu betreiben, auf Kosten des Bemühens um Stärkung der Volkssouveränität. Daher rührt ebenfalls die theoretische Aufwertung des Illiberalismus des populistischen Projekts als Voraussetzung einer authentischeren Demokratie (auf diesen Punkt werden wir im letzten Teil dieses Werkes ausführlich eingehen).
Die populistische Auffassung von Demokratie weist in diesem Sinne drei Charakteristika auf. Sie versucht zunächst, die direkte Demokratie zu privilegieren, vor allem durch die Vermehrung von Volksabstimmungen; sie vertritt ferner das Projekt einer polarisierten Demokratie, indem sie den undemokratischen Charakter nicht gewählter Behörden und Verfassungsgerichte kritisiert. Sie glorifiziert schließlich, und das ist der Kernpunkt, eine unmittelbare und spontane Auffassung des Volksausdrucks.
Der Kult des Referendums und das Lob der direkten Demokratie
In Frankreich machte der Front national seit Mitte der 1980er Jahre, mit dem Beginn seines Erfolgs an den Wahlurnen, die Ausweitung von Volksabstimmungsverfahren zu einem seiner wichtigsten Kampagnenthemen. Jean-Marie Le Pen rief seinerzeit zu einer »echten französischen Revolution« auf und sprach von einer notwendigen »Erweiterung der Demokratie« in diesem Sinne, um »dem Volk das Wort zu erteilen«.2 Er beschrieb das Referendum als »vollkommensten Ausdruck der Demokratie« und wünschte sich zugleich die Einführung einer besonderen Form, eines »Veto-Referendums«, das dem Volk ermöglichen sollte, das »Inkrafttreten im Parlament beschlossener, aber von ihm missbilligter Gesetze zu verhindern«.3 Einige Jahre später, in seinem Programm für die Parlamentswahlen von 1997, präzisierte der Front seinen Vorschlag, das Referendum zu erweitern, dahingehend, »das französische Volk aus dem Zugriff der politischen Klasse zu befreien«. Ein solches »Volksbegehren« sollte den Bürgern ermöglichen, selbst zu entscheiden, welche Themen ihnen zur Beurteilung vorgelegt werden.4
Die Intellektuellenzirkel, die in dieser Zeit den Aufstieg des Front begleiteten, wie der Club de l’Horologe oder GRECE, beteiligten sich an dieser Glorifizierung der direkten Demokratie, indem sie diese mit der Schweizer Tradition in Verbindung brachten, dem Vorbild einer in ihren Traditionen verwurzelten Demokratie, die großen Wert darauf legte, sich nicht durch fremde Organe entstellen zu lassen. Durch die direkte Demokratie habe das Land sich, ihrer Meinung nach, vor missbräuchlichen Steuern und Masseneinwanderung schützen können.5 Der direkte Appell an das Volk wurde so als Mittel präsentiert, um sich alter politisch-oligarchischer Eliten zu entledigen und gleichzeitig der Gefahr einer Invasion durch »nicht assimilierbare« Migrant*innen vorzubeugen – das traditionelle Repräsentativsystem wurde damit auf eine Art Vorgeschichte der Demokratie zurückgestuft. Alle populistischen Bewegungen übernahmen in der Folge diese Sicht der direkten Demokratie als in ihren Augen wirksames Instrument zur Ausgrenzung korrupter und unfähiger Eliten durch ein unverdorbenes und vollkommen souveränes Volk. Das Referendum weist überdies eine starke performative Besonderheit auf, da mit ihm die Wortergreifung vermeintlich einen unmittelbar tätigen Willen zum Ausdruck bringt, ganz im Gegensatz zu dem ewigen parlamentarischen Hin und Her.
Die Umgehung des Referendums von 2005 über das europäische Verfassungsprojekt durch die parlamentarische Ratifizierung des Lissabonner Vertrages hat in Frankreich einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Wollte man den Beginn der sich ausbreitenden populistischen Welle bestimmen, wäre sicherlich dieses symbolische Datum zu nennen. Die Betonung des demokratischen Charakters von Volksabstimmungen wurde seither immer wieder der Neigung des parlamentarisch-repräsentativen Systems entgegengehalten, die Volkssouveränität in Beschlag zu nehmen. Elf Jahre später wurde in Großbritannien die Option der Bevölkerung für den Brexit in vergleichbarer Weise mit den gegenteiligen Bestrebungen der Parlamentsmehrheit kontrastiert. In ganz Europa ist ein wachsendes Interesse populistischer Kreise für die Schweizer Verfahren der Volksinitiative und der Volksabstimmung zu verzeichnen, mit denen es Christoph Blochers SVP wiederholt gelungen ist, dem Land seine Debatten aufzuzwingen. Politische Regime wiederum haben in allen Teilen der Welt häufig zum Mittel des Referendums gegriffen, um ihre Legitimität zu stärken sowie, in den meisten Fällen, die Befugnisse der Exekutive zu erweitern. Referenden nehmen somit oft den Charakter von Plebisziten an. Doch diese Frage ist in rechts- wie in linkspopulistische Zirkeln kaum je reflektiert worden, so tief ist bei ihnen die Überzeugung von der demokratischen Mustergültigkeit dieses Verfahrens verankert.
Die polarisierte Demokratie
Die Regierung der Richter – dieser Ausdruck wurde häufig verwendet um zu stigmatisieren, was als Bedrohung empfunden wurde: das Erstarken einer Judikative, die in vielen Demokratien immer unabhängiger geworden ist. Diese Unabhängigkeit wird in besonderem Maße angeprangert, wenn sie sich in einer Rechtsprechung äußert, die das Gesetz durch seine Interpretation präzisiert. »Die Richter sind dazu da, das Gesetz anzuwenden, nicht um es zu erfinden, nicht um dem Willen des Volkes zu hintertreiben, nicht um an die Stelle des Gesetzgebers zu treten. Ein öffentliches Amt darf seinen Inhaber nicht dazu autorisieren, sich eine Macht anzueignen«, schimpfte beispielsweise Marine Le Pen.6 Manche schrecken nicht einmal vor dem Begriff der »Juridiktatur« zurück, um die Unabhängigkeit der Justiz und die erweiterten Kompetenzen des Verfasssungsgerichts in Frankreich zu benennen,7 und betrachten die Rechtsstaatlichkeit als »zentralen Irrtum« der heutigen Demokratien. Der Gegensatz zwischen Recht und Demokratie ist nicht neu. Er wurde in der Amerikanischen und der Französischen Revolution ausgiebig diskutiert und veranlasste die Mitglieder der Constituante dazu, 1790 das Prinzip der Wählbarkeit von Richtern einzuführen (die anschließend wieder aufgehoben wurde, aber das ganze 19. Jahrhundert eine republikanische Forderung blieb). Zahlreiche amerikanische Bundesstaaten instituierten ihrerseits Mechanismen der Richterwahl, ein System, das noch heute in Kraft ist.8 Doch dieser Gegensatz wurde in der populistischen Sicht radikalisiert. Ihr zufolge ist das Mindeste, was man sagen könne, dass die Justiz sich nur auf eine rein funktionelle Legitimität berufen könne, dass ihr demokratischer Status ein sekundärer sei im Vergleich zu dem der Mandatsträger, die den Segen öffentlicher Wahlen erhalten hätten. Man kann in diesem Fall von einer polarisierten Sicht der Legitimität und der demokratischen Institutionen sprechen, bei der die Wahl zugleich als einziges Mittel des demokratischen Ausdrucks fungiert (was zu der Annahme führt, dass Demokratie im Wesentlichen eine Verfahrensregel sei und keine substanzielle Dimension besitze, die beispielsweise die Qualität einer Institution und ihres Funktionierens charakterisiert).
Dieses Demokratieverständnis hat sich in populistischen Regimen vornehmlich in der Gängelung, wenn nicht Abschaffung unabhängiger Behörden geäußert, wofür die Beschneidung des Zuständigkeitsbereichs der Verfasssungsgerichte das eklatanteste Beispiel darstellt. Bis in die Europäische Union hinein, wo die neue ungarische Verfassung von 2011 für Furore sorgte, so stark waren die Befugnisse des Verfassungsgerichts in der von Victor Orbán initiierten und intellektuell gerechtfertigten Neufassung beschnitten. Auf anderem Wege wurde die Unabhängigkeit dieser Institution auch in Polen ernsthaft gefährdet. Ihre heftige Kritik durch die Brüsseler Instanzen war für diese Länder kein Anlass, einen Rückzieher zu machen. Vielmehr verteidigten sie sich damit, auf СКАЧАТЬ