Название: Das Jahrhundert des Populismus
Автор: Pierre Rosanvallon
Издательство: Bookwire
Жанр: Социология
isbn: 9783868549850
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3Ein Repräsentationsmodus: der Homme-peuple
Der Populismus preist ein homogenes, in seiner Ablehnung der Eliten und Oligarchien vereintes Volk. Ein Volk auch, das eine politische Kaste verwünscht, die beschuldigt wird, nur Eigeninteressen zu verfolgen und keinen repräsentativen Charakter mehr zu haben. Daher die Ablehnung der Parteiform, die mit der Herrschaft realitätsferner Apparate und Gebetsmühlen gleichgesetzt bzw. beschuldigt wird, durch endlose Machtkämpfe konkurrierender Gruppen gelähmt zu werden. Insofern aus letzterem Grund die Bevorzugung einer anderen Art politischer Organisation: die der Bewegung. Neben ihrem ursprünglichen Anliegen, frisches Blut ins öffentliche Leben zu bringen, unterscheiden sich die populistischen Bewegungen auch strukturell von den Parteien. Waren die Parteien idealiter als organisierter Ausdruck spezifischer, sozial, territorial oder ideologisch definierter Gruppen gedacht, so erheben Bewegungen den Anspruch, die gesamte Gesellschaft zu umfassen.1 Die Repräsentation der Gesellschaft war über die Parteien leicht zu denken, weil diese ja gerade Ausdruck klar definierter, bestehender Realitäten waren (die Arbeiterklasse, die bäuerliche Welt, die Handwerker und Gewerbetreibenden, religiöse Gemeinschaften usw.). Mit den populistischen Bewegungen stellt sich die Sache anders dar. Sie bilden sich zunächst auf eine stärker negative Weise heraus, durch eine Reihe von Ablehnungen und Verwünschungen. Doch parallel dazu sind sie mit dem immer diffuseren Charakter des Volkes konfrontiert, als dessen Vorreiter sie sich verstehen. Der Niedergang der politischen Parteien hängt übrigens teilweise mit dieser Realität zusammen. Sie sind nicht nur Opfer ihrer Antiquiertheit und ihrer Verknöcherung: sie finden ihren Platz nicht mehr in einer Gesellschaft, die sich radikal verändert hat, einer Gesellschaft, in der die sozialen Verhältnisse immer fragmentierter sind.2 Auch in diesem Kontext hat die populistische Botschaft eine positive Aufnahme gefunden, weil ihre Globalisierung das Gefühl vermittelte, sie könne inmitten dieser Zersplitterung etwas Gemeinsames erzeugen. Doch reicht ihr anklägerischer Diskurs nicht aus, um den Repräsentationsmangel zu füllen, der die heutigen Demokratien charakterisiert. Daher die Rolle, die die Führungsfigur spielt, um dieser Botschaft Kohärenz und Wahrhaftigkeit zu verleihen.
Der lateinamerikanische Präzedenzfall
Der lateinamerikanische Populismus hat um die Mitte des 20. Jahrhunderts auf exemplarische Weise diese wesentliche Dimension der heutigen Populismen veranschaulicht. Das ist nicht verwunderlich, denn er tauchte in gering industrialisierten Ländern auf, die weniger in Klassen geteilt als von latifundistischen und oligarchischen Herrschaftsformen bestimmt waren. Der Gegensatz zwischen Volk und Eliten war somit für einen Großteil der Bürger*innen am einleuchtendsten. In diesem Kontext trat die Thematik des Homme-peuple in Erscheinung. »Ich bin kein Mensch, ich bin ein Volk«, dieser bis zum Überdruss wiederholte Satz der kolumbianischen Führerfigur der 1930er und 1940er Jahre, Jorge Eliécer Gaitán3, gab die Richtung vor für die späteren Populismen auf dem ganzen Kontinent. Sein Lebenslauf verdient, einen Augenblick bei ihm zu verweilen, denn in ihm drückt sich die Doppelnatur dieses kommenden Populismus aus, der ebenso vehement antikapitalistisch wie fasziniert von den seinerzeit im Aufstieg befindlichen Faschismen war. Als Student in Rom schrieb er 1926–1927 eine Doktorarbeit bei Enrico Ferri, einem berühmten, vom Sozialismus zum Faschismus gewechselten Kriminologen, der zu seinem Förderer wurde. Gaitán hatte mehrfach Gelegenheit, an Versammlungen von Mussolini teilzunehmen und zeigte sich beeindruckt von dessen Fähigkeit, seine Zuhörer*innen zu beherrschen und die Energie einer Menge zu steuern. Er studierte sogar sorgfältig die Gestik des Duce und seine Art, die Stimme zu modulieren, um sich der Aufmerksamkeit seines Publikums zu versichern – Techniken, die er für sein eigenes politisches Handeln in Kolumbien übernahm. Als »Kandidat des Volkes« wurde Gaitán, zugleich Antikapitalist und Gegner der traditionellen Oligarchie, im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen von 1948 ermordet (wir kommen später auf sein Werk zurück). Seit dieser Zeit steht sein Name symbolisch für den lateinamerikanischen Populismus, in seiner Sprache wie in seinem antioligarchischen Engagement, mitsamt seinen Ambiguitäten. Er wurde von Fidel Castro ebenso bewundert wie von Juan Perón. Perón, der sich ebenfalls als Homme-peuple verstand, der von »Depersonalisierung« sprach, um die Pläne zu bezeichnen, die die Revolution in ihm angelegt habe4, und davon überzeugt war, dass seine Individualität in der der Argentinier*innen aufgegangen sei.
Hugo Chávez, der sich ausdrücklich auf Gaitán bezog, bekräftigte diese Formel im venezuelanischen Präsidentschaftswahlkampf von 2012. »Wenn ich euch sehe«, wandte er sich üblicherweise an die versammelten Massen, »wenn ihr mich seht, dann fühle ich, dann sagt mir etwas: ›Chávez, du bist nicht mehr Chávez, du bist ein Volk. Ich bin tatsächlich nicht mehr ich, ich bin ein Volk, und ich folge euch, so empfinde ich es, ich habe mich in euch verkörpert. Ich habe es gesagt und wiederhole es: Wir sind Millionen Chávez; auch du, venezuelanische Frau, bist Chávez; und du, venezuelanischer Soldat, bist Chávez; du auch, Fischer, Ackersmann, Bauer, Händler, bist Chávez. Denn Chávez ist nicht mehr ich, Chávez ist ein ganzes Volk!«5 So lebte die alte Idee einer spiegelbildlichen Repräsentation6 wieder auf. In seiner ersten Antrittsrede als Staatspräsident hatte Chávez 1999 seinem Publikum zugerufen: »Heute verwandle ich mich in euer Werkzeug. Ich existiere kaum, und ich erfülle das Mandat, das ihr mir anvertraut habt. Bereitet euch aufs Regieren vor!«7
Die organische Führungsfigur
Die lateinamerikanischen Beispiele hatten noch bis vor Kurzem einen »exotischen« Charakter. Doch das Erstarken der Populismen zeigt eindeutig, dass dieses Verständnis der Führungsfigur als »Hommepeuple« für eine Sicht der politischen Repräsentation steht, die ihnen allen gemeinsam ist. Während des französischen Präsidentschaftswahlkampfs von 1995 hatte der Front national folgenden Spruch auf seine Plakate gedruckt: »Le Pen, le peuple«. Die Frage wurde später von denen explizit theoretisiert, die als die organischen Intellektuellen jener bereits erwähnten Strömung der Linken gelten, Ernesto Laclau und Chantal Mouffe. »Der Populismus«, betonte Ersterer, »erfordert als seine Entstehungsbedingung eine neuartige Vertikalität. Das Volk als Kollektivakteur muss sich um eine gewisse Identität herum bilden. Doch diese Identität ist nicht automatisch gegeben: Sie muss erzeugt werden.«8 Das bedeutet für ihn, dass neben der »horizontalen Ausdehnung demokratischer Äquivalenzen« eine »vertikale Verbindung mit einem hegemonialen Signifikanten« treten muss, »der zumeist der Name einer Führungspersönlichkeit ist«.9 Die gleiche Einschätzung findet sich bei Chantal Mouffe: »Um aus heterogenen Forderungen einen Kollektivwillen zu erzeugen«, schreibt sie, »braucht es eine Person, die ihre Einheit repräsentieren kann. Ein populistisches Moment ohne Führungsfigur kann es also nicht geben, so viel ist klar.«10
Von links aus formuliert, sorgten solche Thesen für eine gewisse Verwirrung. Sie wurden jedoch von ihren Verfasser*innen vehement verteidigt. Indem diese zunächst der von ihnen erwünschten Führungsfigur von dem »sehr autoritären Verhältnis« abgrenzten, das die Beziehungen zwischen Volk und Führer im Rechtspopulismus charakterisiere. Doch stand das Argument auf schwachen Füßen, weil es auf einem bloßen Apriori beruhte. Interessanter waren ihre Überlegungen zur allgemeinen Besonderheit des Homme-peuple. Dieser war für sie eine Führungsfigur, die als solche nur existiert, wenn sie tatsächlich das Leben und die Forderungen der Repräsentierten verkörpert; wenn sie, kurz gesagt, eine wirkliche Macht zur Verkörperung aufweist. In diesem Fall kann man sagen, dass sie idealerweise eine depersonalisierte Führungsfigur ist, eine reine Repräsentantin, eine total in ihrer Funktionalität aufgehende Figur ist, himmelweit entfernt also von jeglicher Form von Personenkult, mitsamt dem darin enthaltenen Herrschaftsverhältnis.11 Idealerweise, wohlgemerkt. Die Führungsfigur kann hier als reines Organ des Volkes betrachtet werden.12 СКАЧАТЬ