Название: Das Jahrhundert des Populismus
Автор: Pierre Rosanvallon
Издательство: Bookwire
Жанр: Социология
isbn: 9783868549850
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Diese Besorgnisse und Vorbeugemaßnahmen bilden seit zwei Jahrhunderten die Grundlage für eine Art ständigen Wechsel zwischen Wellen des Protektionismus und des Freihandels auf nationaler Ebene. Sie stehen immer noch im Mittelpunkt der Debatten, wie die Kontroversen von 2019 über die europäischen Handelsabkommen mit Kanada und dem Mercosur bezeugen oder die wiederkehrenden Fragen, wie man der Unausgewogenheit der Handelsbeziehungen mit China begegnen solle. Doch in all diesen Fällen, vergangenen wie aktuellen, wurde die Frage des richtigen Maßes an Protektionismus zumeist aus pragmatischer Sicht behandelt. Was variierte, war allein die wahrgenommene Dringlichkeit der Frage oder die Art der zu berücksichtigenden Probleme (die ökologischen Kosten eines weltweiten Freihandels haben beispielsweise eine ganz neue Bedeutung angenommen). Die Verteidigung des Protektionismus, die im Zentrum der ökonomischen Betrachtungsweise vieler populistischer Bewegungen steht, ist hingegen von anderer Art. Sie hat eine viel umfassendere Dimension. Sie verweist zugleich auf eine Auffassung von Souveränität und politischem Willen, eine Philosophie der Gleichheit und ein Verständnis von Sicherheit.
Die Rückkehr des politischen Willens
Aus protektionistischer Perspektive wird die Herrschaft des Freihandels und der ihn begleitenden Globalisierung nicht nur im Hinblick auf die wirtschaftliche und soziale Bilanz bewertet, die man aus ihnen ziehen könnte, ob im globalen Rahmen oder an spezifischen Punkten. Sie werden zunächst als Urheber einer Zerstörung des politischen Willens angeprangert. Denn sie gehen mit der Übertragung der Regierungsmacht auf anonyme Mechanismen einher und verabschieden so die Möglichkeit einer souveränen Bestimmung der Völker über ihr Schicksal. Sie entwerfen eine vermeintlich von »objektiven« Regeln regierte Welt, die bereits dem Gedanken an eine Alternative zur bestehenden Ordnung jede Grundlage entzieht.3 Diese Enteignung wird noch verschärft durch den Aufstieg unabhängiger Behörden, die sich überall in ihrem Gefolge ausbreiten. Für die europäischen Populismen erscheint die Europäische Union als Symbol und Labor dieser perversen Vereinnahmung der Volksmacht durch Expert*innenwissen und die unsichtbare Hand des Marktes. Sie veranschaulicht in ihren Augen auf exemplarische Weise die Einführung einer »Regierung durch Zahlen«, die an die Stelle der Ausübung des politischen Willens tritt.4
Diese Kritik bildete die Grundlage für den Erfolg des Brexit-Votums in Großbritannien von 2016, bei dem sich Boris Johnson und Nigel Farage als Vorkämpfer des »Can do« (Man kann es schaffen) durch Wiederherstellung einer aktiven (und wohltuenden) Souveränität des britischen Volkes über sein Schicksal präsentierten. Zwar befürworteten Johnson und Farage auch einen gewissen Liberalismus im Bereich des Außenhandels, doch blieb dieser ganz einer nationalistischen Sicht der Wirtschaft verpflichtet. In Frankreich wird Marine Le Pen nicht müde, auf der gleichen Basis die anonyme Macht des »göttlichen Marktes« zu kritisieren, und sieht in der Europäischen Union, der »Avantgarde der Globalisierung«, die exemplarische Illustration eines »Verzichtshorizonts«.5 Der Verantwortliche für das Wirtschaftsprogramm von Jean-Luc Mélenchon wiederum publizierte zur selben Zeit ein Werk mit dem sprechenden Titel Nous, on peut!6 und dem noch expliziteren Untertitel »Warum und wie ein Land gegenüber den Märkten, den Banken, den Krisen stets agieren kann, wie es will«. Dieses Plädoyer zugunsten des Nationalprotektionismus verstand sich somit klar und deutlich als Teil einer demokratischen Erneuerung, weit hinaus über die bloße Thematisierung der Frage unter wirtschaftspolitischen Aspekten. Es ist deshalb einer der Grundpfeiler der populistischen Sicht des politischen Willens.
Dieses demokratietheoretische Verständnis des Protektionismus ist in der populistischen Denkweise unmittelbar mit der Analyse der Immigration verknüpft. Deren Zunahme wird nämlich als ein Prozess beschrieben, der dem Land von den herrschenden Klassen, die nach billiger Arbeitskraft streben, aufgezwungen wird; ohne dass irgendeine demokratische Entscheidung ihn explizit gutgeheißen hätte.7 Es liegt also auf diesem Gebiet für die Populist*innen eine nicht akzeptable Umgehung des Volkswillens vor, als Produkt einer kapitalistischen Strategie, die zu einer Deklassierung und Schwächung der einheimischen Volksschichten geführt hat. Erweitert auf die Wiedererlangung der Kontrolle über die Migrationsströme wird das protektionistische Gebot somit auch als Teil einer Stärkung der Volkssouveränität betrachtet. Der politische Souveränitätsbegriff ist auch hier, in populistischer Sicht, absolut untrennbar vom Verständnis wirtschaftlicher und sozialer Fragen.
Eine Auffassung von Gerechtigkeit und Gleichheit
Es gibt zwei Arten, Gerechtigkeit und Gleichheit zu verstehen. Zum einen, indem man die relativen Positionen der Individuen berücksichtigt, das heißt in erster Linie der verschiedenen Kategorien von Ungleichheiten, die sie charakterisieren, ob unter dem Gesichtspunkt der Einkommen, der Vermögen oder der Chancen. Ziel wäre in diesem Fall, Differenzen, die eventuell zu rechtfertigen wären, von solchen zu unterscheiden, die durch steuer- und umverteilungspolitische Maßnahmen oder durch die Erhöhung des individuellen Humankapitals reduziert werden müssen. Das ist die geläufigste Art, das demokratische Gleichheitsgebot zu interpretieren. Es gibt aber noch eine andere, mindestens ebenso wichtige, die aber vielleicht weniger im Fokus der Aufmerksamkeit steht: nämlich Gleichheit als Qualität einer zwischenmenschlichen Beziehung zu betrachten (die Gleichheit zwischen Mann und Frau definiert sich somit durch die Tatsache, als Gleiche zusammenzuleben und nicht nur unter Verteilungsgesichtspunkten) sowie als Qualität einer menschlichen Gemeinschaft (die Tatsache, dass jeder anerkannt wird, dass eine Art Harmonie zwischen ihren Angehörigen existiert, dass sie ein aktives Gemeinwesen bilden).8 Diese beiden Dimensionen der Gleichheit sind untrennbar: Es ist keine Gemeinschaft von Bürger*innen möglich, wenn ihre Lebensbedingungen dafür sorgen, dass sie sich in vollkommen getrennten Welten bewegen. Vielmehr sind sie gleichzeitig mit Arten von Institutionen und spezifischen Politiken verbunden, die ihnen Konsistenz verleihen.
Die spezielle populistische Sicht dieses Gleichheitsgebots ist durch zwei wesentliche Merkmale gekennzeichnet. Sie fokussiert sich zunächst auf die Kluft zwischen dem 1% und den 99% in Sachen Verteilungsgleichheit und tendiert zugleich dazu, die übrigen Äußerungen von Ungleichheit innerhalb der Welt der 99%, die doch alles andere als homogen ist, in den Hintergrund zu rücken (und umgekehrt die Einheit des 1%-Universums vorauszusetzen). Des Weiteren legt sie den Hauptakzent auf die eigentlich zivile oder gesellschaftliche Dimension der Gleichheit, die von den herrschenden Herangehensweisen an diese Frage oft vernachlässigt wird. Aber sie tut dies auf eine spezielle Weise. Sie wertet nämlich die Begriffe der Identität und Homogenität auf, um die Beschaffenheit einer »guten Gesellschaft« zu beschreiben, die eine demokratische Nation bildet. Und auf diese Weise verknüpft sich die Sicht der Gleichheit mit dem nationalprotektionistischen Verständnis der Wirtschaft. Die protektionistische Vorstellung setzt nämlich voraus, dass es eine gut entwickelte Einheit gibt, die zu verteidigen wäre, eine Einheit, die sich eindeutig von dem unterscheidet, was ihr äußerlich wäre. Der Begriff der Gleichheit verschmilzt also in diesem Fall mit dem der Einbeziehung in ein homogenes Ganzes. In diesem Sinne verstanden, bildet die Zugehörigkeit zur Nation eine Form negativer Gleichheit, die eine als Distanzgemeinschaft definierte Gruppe erzeugt. Mit Ausländer*innen, in juristisch offenkundiger Weise, aber im weiteren Sinne mit allen Arten von Unerwünschten oder Feinden, die am Ende mit ihnen gleichgesetzt werden. Das Gefühl der Gleichheit speist sich in diesem Fall aus der ständigen Notwendigkeit, diese Distanz wiederzubeleben. Das trägt dazu bei, die »internen« Ungleichheiten zu relativieren und sie im Wesentlichen als Folge der Globalisierung zu betrachten, mit der Ausdehnung der Marktsphäre, der gesteigerten individuellen Mobilität, der Verschärfung СКАЧАТЬ