Название: Let´s play love: Leon
Автор: Hanna Nolden
Издательство: Bookwire
Жанр: Книги для детей: прочее
Серия: Let´s play love
isbn: 9783958694071
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Lass mir Zeit, hatte er gesagt. Allerdings hatte er ihr nicht erklärt, wie viel Zeit das sein sollte. Oder wie sie sich in der Zeit zu verhalten hatte. Sie sollte sich ebenfalls Zeit nehmen und sich melden, wenn sie bereit war, seine Fragen zu beantworten. Was sie in Köln gemacht und warum sie sich hatte umbringen wollen. Die Fragen waren auch so schon schwierig zu beantworten, aber sie so zu beantworten, dass sie Leon nicht gänzlich vertrieb, war ein Ding der Unmöglichkeit.
Als sie hörte, wie ihre Mutter nach Hause kam, räumte sie ihren Schulrucksack ein und ging hinunter. Ihre Mutter war müde von der Arbeit. Oder, weil sie nachts nicht genug schlief. Vany plagten Gewissensbisse. Sie war schuld daran, dass sie nicht ausreichend Schlaf bekam. Sie konnte sich vorstellen, wie sie sich hin und her warf und kein Auge zu tat aus Sorge um ihre einzige Tochter. Daher gab sie sich Mühe, die beste Tochter der Welt zu sein. Sie leistete ihrer Mutter Gesellschaft, während sie sich einen Kaffee kochte, und erzählte von ihrem Gespräch mit Frau Volckmann-Doose. Nach der ersten Überwindung war es sogar ganz wohltuend, sich mit ihrer Mutter gemeinsam gegen die Schulpsychologin zu stellen.
»Ja«, bestätigte ihre Mutter. »Sie hat uns Adressen von Kliniken gegeben, die auf Computer- und Internetsucht spezialisiert sind. Papa und ich sind jedoch der Meinung, dass es dafür zu früh ist. Ich bin überzeugt davon, dass das einzig mit deiner Knieverletzung zusammenhängt, die dich aus der Bahn geworfen hat. So eine Sucht entwickelt sich doch nicht über Nacht. Wenn etwas so schnell entsteht, kann es sich ebenso schnell zurück entwickeln. Ich glaube, dass wir das als Familie schaffen können. Ohne eine Klinik.«
Fast hätte man meinen können, ihre Mutter sprach über Krebs. Vany war sich selbst nicht sicher, ob sie nicht in einer Klinik besser aufgehoben war. Immerhin hatte sie tatsächlich versucht, sich das Leben zu nehmen, auch wenn ihr das im Nachhinein solche Angst einjagte, dass sie überzeugt davon war, es niemals wieder versuchen zu wollen. Trotzdem – so groß ihre Erleichterung war, dass ihre Eltern zu ihr hielten und sie nicht in die Psychiatrie abschoben, ein fader Beigeschmack blieb. Sie half ihrer Mutter beim Vorbereiten des Abendessens, versuchte, während des Essens, sich ein bisschen am Familiengespräch zu beteiligen, und ging dann früh ins Bett. Allerdings stellte sie sich einen Wecker auf drei Uhr. Schließlich hatte sie noch ein Date mit Rebekka, die ein Date mit Deckx hatte. Beim Eindösen träumte sie vor sich hin und stellte sich vor, tatsächlich Rebekka zu sein. Diese hübsche Blondine in den Gothicklamotten. Die ihre Zeit auf dem Friedhof verbrachte und Fotos von verwitterten Grabsteinen schoss. Nach und nach kamen immer mehr Mosaiksteinchen zusammen. Sie bekam langsam ein Gefühl für Rebekka und ihre Biographie.
Als um drei Uhr morgens der Wecker ging, war Vany fast ausgeschlafen. Sie vergewisserte sich durch ausgiebiges Lauschen, dass alle ins Bett gegangen waren, holte das Kleiderbündel mit dem Laptop aus dem Schrank und zog sich um, während der Laptop hochfuhr. Es hätte ihr vielleicht lächerlich vorkommen müssen, sich dafür als Rebekka zu verkleiden, aber so war es nicht. Ganz im Gegenteil. Es fühlte sich richtig an. Sie loggte sich mit Rebekkas Profil ein, überprüfte Deckx´ Kanal und wurde enttäuscht. Erneut hatte Deckx keine Videos hochgeladen. Unter seinem letzten Video waren viele neue Kommentare aufgetaucht, so dass Rebekkas Beitrag weiter nach unten gerutscht war. Dass Vany96 keinen Kommentar geschrieben hatte, war niemandem aufgefallen oder es hatte sich zumindest niemand dazu geäußert. Dieser Sturm war wohl abgeklungen. Unzufrieden fuhr Vany den Laptop wieder herunter, zog sich um und verstaute alles im Schrank. Sie kroch unter die Decke und stellte ihren Wecker neu. Kurz betrachtete sie Leons Profilbild bei WhatsApp, dann schob sie das Handy unters Kopfkissen. Sie wollte nicht an Leon denken. Das wühlte zu viele Fragen auf, die sie nicht beantworten konnte. Sie drehte sich auf die Seite und versuchte, einzuschlafen. Diesmal stellte sie sich vor, wie sie auf dem Platz stand und Fußball spielte. Sie war Teil der Nationalmannschaft. Die Ränge waren voll und alle jubelten ihr zu. Mit einem wehmütigen Gefühl schlief Vany wieder ein.
Der Dienstag begann mit Mathe und der Rückgabe der Klassenarbeit, in der Vany es zumindest auf eine Vier geschafft hatte. Vany war zu dem Schluss gekommen, dass Leon ihr aus dem Weg ging und zufällige Begegnungen vermutlich vermeiden würde. Obwohl sie ihn gern gesehen hätte, beruhigte diese Erkenntnis sie auch. »So tun als ob« forderte ihre volle Aufmerksamkeit. Eine Begegnung mit Leon würde sie überfordern. Frau Müller, ihre Klassenlehrerin kündigte an, dass es nicht nur für die Großen aufs Abitur zuging, sondern auch für die Zehntklässler eine Menge Klassenarbeiten in nächster Zeit folgen würden, und Vany verabredete sich mit Jazz zu regelmäßigen Lerntreffs. Jazz, die stets eine fleißige Schülerin gewesen war, schien das zu gefallen und der besorgte Ausdruck, mit dem sie Vany seit Sonntag immer mal wieder bedachte, wich allmählich aus ihrem Blick. Stück für Stück gewann Vany ihre Sicherheit zurück. Sie füllte ihre Tage damit, immer beschäftigt zu sein. Sie absolvierte die Übungen für ihr Knie, traf sich täglich mit Jazz zum Lernen – mal bei ihr und mal bei sich – und motivierte auch Tim dazu, alles zu geben. Sie telefonierte ab und zu mit Teamkolleginnen und hatte das Gefühl, dass sich da echte Freundschaften aufbauen konnten. Bisher hatte sie Jazz als ihre einzige Freundin betrachtet, aber die Mädchen und sie hatten immerhin eine wichtige Gemeinsamkeit: die Mannschaft. Es war großartig, mit jemandem über Fußball fachsimpeln zu können, was mit Jazz nie funktioniert hatte. Manchmal fragte sich Vany, warum sie sich nicht schon vorher häufiger mit ihren Kolleginnen getroffen hatte, aber die hatten früher nur auf dem Platz eine Bedeutung für sie gehabt. Vielleicht einfach, weil die meisten auf andere Schulen gingen und ihre ganz eigenen Probleme hatten. Jetzt gab Vany ihnen auf jeden Fall eine Chance und war froh, dass sie da waren. Außerdem gewöhnte sie sich an, den Nachmittagskaffee für ihre Mutter fertig zu haben, wenn sie von der Arbeit nach Hause kam, und war überhaupt eine tadellose Bilderbuchtochter. Sie stopfte so viel wie möglich in die wachen Stunden, so dass sie kaum zum Nachdenken kam. Und so glaubte sie sich tagsüber beinahe selbst, dass alles wieder in bester Ordnung war. Leon wurde so ungewollt doch noch Teil des »So tun als ob«-Plans. Ab und an bemerkte Vany nämlich, dass er sich in ihrer Nähe aufhielt und sie beobachtete, und da sie tagsüber in der Schule einen ausgeglichenen Eindruck machte, musste er zwangsläufig zu dem Schluss kommen, dass es ihr besser ging. Da sie sich jedoch nicht bei ihm gemeldet hatte, musste das für ihn heißen, dass sie noch nicht bereit war, seine Fragen zu beantworten. Und so war es leider. Vany wusste, dass sie Leon nicht würde anlügen können. Sie wollte es auch gar nicht. Sie wollte, dass Leon sie als Vany akzeptierte. Ihm etwas vorzuspielen, stand nicht zur Debatte. Aber sie hatte bisher keinen Weg gefunden, ihm alles zu beichten und ihn damit nicht vor den Kopf zu stoßen. Das würde einfach nicht funktionieren. Und die Wahrheit war, dass sich neben all den positiven Abläufen in ihrem Leben auch eine negative Routine entwickelte. Jede Nacht um drei Uhr ging ihr Wecker und die Verwandlung zu Rebekka begann. Jede Nacht prüfte Rebekka einmal Deckx´ Kanal, surfte im Internet nach Gothicklamotten und Schmuck und melancholischen Fotos. Vany fand, dass Rebekka ihr gar nicht so unähnlich war. Optisch betrachtet. Sie müsste sich bloß die Haare blondieren und endlich Schminken lernen. Aber dafür hatte sie im Moment noch keine Zeit und es würde zu sehr auffallen. Sie musste den richtigen Zeitpunkt für den nächsten Schritt der Verwandlung abwarten. Von Deckx indes gab es in der ganzen Woche kein Lebenszeichen, aber Rebekka hatte Zeit. Sie war ganz im Gegensatz zu Vany die Geduld in Person. Und vielleicht musste man das auch sein, wenn man nur eine Stunde am Tag existierte.
Am Freitag ließ Vany das Lernen mit Jazz wegen der Krankengymnastik ausfallen. Da ihre Mutter inzwischen wieder normal arbeitete, fuhr Vany mit dem Bus und während der Fahrt steckte sie die Nase in ihr Geschichtsbuch, um nicht nachdenken zu müssen. Trotzdem drifteten ihre Gedanken ständig ab. Busfahren lud ja geradezu zum Träumen ein und Vany dachte über Rebekka nach, über Outfits und Haare und Make-up. Zum СКАЧАТЬ