Название: Die verschollene Beute
Автор: Wolfgang Wiesmann
Издательство: Readbox publishing GmbH
Жанр: Зарубежные детективы
Серия: Kommissarin Fey Amber
isbn: 9783942672856
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Dienst
Jacques blinzelte mit verkrusteten Augenlidern über seine Decke, verfolgte den Schwaden seines Atems und sah Jules neben der Tür sitzen. Er kritzelte etwas auf ein loses Blatt Papier, das er mit der Handinnenfläche stabilisierte. Was zum Teufel schrieb der Hänfling da?
Jules hatte sein Amt als Assistenz-Buchhalter auch bekommen, weil er figürlich nicht dem männlichen Cliché entsprach. Ein eher zierlich gebauter Mann passte besser zu Bleistift und Papier. Jules machte sich nichts aus Muskelmasse, Stechschritt und grundsolider männlicher Koketterie. Sein Wahlspruch war: Leben und leben lassen. Mit anderen Worten: Jules war keine Gefahr für niemanden, ein echt guter Diener. So sahen es die Wachposten und ließen sich die Stiefel von ihm putzen, obwohl der Kommandant das nicht abgesegnet hatte.
Grausam, jetzt in dieser Kälte aufstehen zu müssen, dachte Jacques und wollte seine Nase wieder unter die Filzdecke stecken. Neben ihm röchelte der Deserteur, als spuckte er die letzten Fetzen Leben aus. Widerwillig raffte Jacques sich auf, stützte seine Ellenbogen an der Matratze ab und sah einen Blutfleck vor dem Bett. Friedel Winkler hatte geblutet. Das konnte ein gutes Zeichen sein. Solange Blut floss, lebte er. Andererseits, wenn das Blut nicht mehr floss, hatte sich die Wunde geschlossen und er lebte erst recht. Er stand auf und schaute nach ihm. Kein merklicher Atem. Er fühlte Winklers Puls am Handgelenk. Gleichmäßig und schnell. Jacques gab sich damit zufrieden. Er hatte einen Tag in einem Lazarett verbracht, und immer, wenn die Ärzte Wunden behandelt hatten, war die Rede von einem schnellen Puls. Also hatte Winkler Schmerzen. Besser sie erschossen ihn bald.
Hinrichtung im Morgengrauen, wie idyllisch. Passend zum allgegenwärtigen Krieg, ging es Jacques durch den Kopf. Aber würde der Kandidat überhaupt stehen können? Wenn nicht, würden sie ihn hängen.
Winkler schwenkte die Schulter zur Seite und heulte auf. Jacques beugte sich zu ihm. „Wasser“, hörte er ihn keuchen. „Wasser.“
Jacques winkte Jules herbei. „Wasser“, wisperte Winkler erneut. Jules ging nach draußen und tauchte eine Kanne in den Trog mit Regenwasser, das ursprünglich zum Löschen gedacht war, falls ein Blitz einen Brand auslösen würde, aber praktisch zum Reinigen von Stiefeln und Holzschuhen genutzt wurde.
Mit aufgequollenen Lippen trank Friedel Winkler vom Kannenrand und spuckte danach Wasser und Blut auf den Boden. Vorne im Mund fehlten ihm zwei Zähne. Die Wunden hatten sich geöffnet, Blut lief seitlich über Lippen und Kinn. Sein Gesicht wies schwere Verletzungen auf, die sich über Nacht tiefer verfärbt hatten. Besonders um die Augen entstellten ihn Schwellungen und Platzwunden. Seine Versuche, sich aufzurichten, scheiterten. Er jammerte, als seine Arme kraftlos zur Seite knickten.
Jacques befühlte beide Oberarmknochen. Da war nichts gebrochen, aber jede Bewegung verursachte ein schmerzverzerrtes Gesicht. Jules und Jacques schauten dann verdutzt zu, wie Liam sich der Sache annahm. Er zog einmal am ausgestreckten Arm und die Gelenkkugel saß wieder in der Pfanne. Friedel krümmte sich vor Schmerzen, aber bevor er wieder zur Besinnung kam, hatte Liam seinen anderen Arm gepackt und rangierte auch diesen beherzt zurück in die richtige Position. Ein kurzer Aufschrei und die Operation war geglückt.
Ein schriller Ton schallte plötzlich durch Mark und Bein. Die Neuen reckten ihre Köpfe. Die anderen warfen ihre Decke von sich, setzten sich auf die Bettkante und schlüpften in ihre Holzschuhe. „Antreten zum Frühstück“, sagte einer neben Jacques. Es gab Brotkanten, Rübenstücke als Zahnputzersatz und warmes Wasser mit Milch. Das musste für den Tag bis zum Abendessen reichen.
Jacques beeilte sich, um zu den ersten beim Frühstück zu gehören, aber die Portionen wurden vom Wachpersonal rationiert und streng überprüft. In Zeiten von Hunger konnten auch die eigenen Landsleute zu Wölfen werden. Das Gesetz des Stärkeren trat sofort in Kraft, wenn die Wachen wegschauten und das taten sie manchmal absichtlich.
Als Jacques und Liam vom Frühstück in ihr Quartier zurückkamen, war Friedel Winkler verschwunden. Der Blutfleck vor seinem Bett war aufgewischt worden und seine Decke war auch weg. Jules rief ihnen zu, sich zu beeilen. Es blieben noch zehn Minuten fürs Klo, und dann flott vor die Baracke zum Appell.
Jacques stand an vor den zwei Klos für hundert Männer. Endlich an der Reihe, suchte er Klopapier. Ein Fetzen Zeitung hätte es auch getan, aber da war nichts. Die Latrinen stanken nicht nur bestialisch, sondern ließen ihre Besucher auch wissen, dass der Krieg ein schmutziges Geschäft war.
Jacques hatte gehört, man könne auch später im Wald seine Notdurft verrichten. Da gab es wenigstens Blätter zum Abputzen. Er kniff also den Hintern zusammen und zog sich die Hose wieder hoch. Merkwürdig, dieses Loch in der Trennwand zwischen den beiden Klos. Er lehnte sich von vorne dagegen und fand, dass sein Schwanz genau dort hindurch passen würde, dachte sich aber weiter nichts dabei und ging.
Heimatgeflüster
Marion lehnte ihr Fahrrad an die Fachwerkwand der Sythener Mühle und las auf dem Plakat: „Heimatgeflüster“. Trefflich, dachte sie, das ließ viel Raum für kreative Spontanität. Marcel war schon da. Sein Auto mit dem roten Kennzeichen parkte gegenüber am Hotel Pfeiffer. Sie wählte schnell noch Karins Nummer. Wieder keine Antwort. Kurz vor sieben. Ob sie doch besser mit dem Auto kurz hinfuhr? Es waren nur sechs Kilometer. Dann hätte sie Gewissheit. Andererseits war sie kein Kindermädchen und Karin musste sich bei ihr nicht abmelden. Vielleicht war Hannes vorzeitig von der Montage zurückgekommen. Besorgt stellte sie ihr Handy auf lautlos und stieg die Treppen zum Gesellschaftsraum hoch.
Bresson saß auf einem Barhocker neben dem Tresen und unterhielt sich angeregt mit dem Vorsitzenden des Sythener Heimatvereins. Marion ging auf die beiden zu und wurde von Bresson stürmisch begrüßt. Küsschen links und rechts und Komplimente hagelte es auch. Augenblicklich schauten die meisten der Damen im Publikum auf. Der Belgier verstand es, die Herzen der Frauen zu erwärmen. Da ihm auch noch der Ruf eines Geschichtenerzählers nach alter Tradition vorausgeeilt war, hatte er bei den Damen jede Menge Vorschusslorbeeren auf dem Konto.
Die Karten für den Abend waren in Kürze ausverkauft. Der Raum war zum Bersten voll, aber für Bier und Korn war ein Spalier geschaffen worden und die ehrenamtliche Kellnerin servierte mit hochroten Wangen, was das Zeug hielt.
Der Vorsitzende schaute auf die Uhr, erhob sich, bat um Ruhe und stellte sich und den Gast des heutigen Abends vor. Marion erhielt das Wort und legte in ganz persönlichen Ausschmückungen dar, wie sie Marcel kennengelernt hatte und dass sie kaum fassen konnte, welch großes Glück es für die Gemeinde sei, durch ihn erhellende Einblicke in ein dunkles Kapitel der heimatlichen Vergangenheit zu erhalten.
Mit einsetzendem Applaus stand Marcel auf und bedankte sich. Er sprach zunächst allgemein über die Zeit vor hundert Jahren, als es weder TV noch Telefon gab, und die einzige Unterhaltung im Erzählen von Fantasiegeschichten und Mutmaßungen über die Schlechtigkeit der Nachbarn bestand.
Sein Großonkel Jules war ihm als kleiner Junge ans Herz gewachsen, weil er immer Zeit für ihn gehabt hatte. Bis ins hohe Alter von 96 Jahren habe er allein gelebt und bekam nur Besuch von ihm, seinem Urneffen, und einem befreundeten Postboten, mit dem er knobelte und Calvados trank. Etwas Geheimnisvolles umgab ihn, fügte Bresson an, und nannte es einen ätherischen Wesenszug, der nicht greifbar war, sodass man ihn nicht mit Worten beschreiben konnte.
Dann kam Marcel zum eigentlichen Thema und lenkte das Interesse seiner Zuhörer auf die Tagebuchaufzeichnungen seines Großonkels vom Kriegsgefangenenlager СКАЧАТЬ