Название: Die verschollene Beute
Автор: Wolfgang Wiesmann
Издательство: Readbox publishing GmbH
Жанр: Зарубежные детективы
Серия: Kommissarin Fey Amber
isbn: 9783942672856
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Während einer Lesung in der örtlichen Sparkasse von Les Bon Villers, zu der hauptsächlich Bekannte und Freunde zu seiner moralischen Unterstützung gekommen waren, hatte er mehr oder weniger spontan seinen neuen Roman beiseitegelegt und einfach drauflos erzählt. Der Abend wurde ein voller Erfolg. Zu seiner Verwunderung stellte Marcel im Nachhinein fest, dass er sich ganz und gar nicht an seinen Romantext gehalten, sondern frei nach Gefühl eine mitreißende Geschichte erfunden hatte. Der Zuspruch seiner beeindruckten Hörer veranlasste ihn daraufhin, dem Schreiben den Rücken zu kehren und sich als Geschichtenerzähler ein Zubrot zu verdienen.
Frau Marion Thüner vom Heimatverein Haltern-Sythen war auf einer Urlaubsfahrt nach Les Bon Villers auf Bresson aufmerksam geworden. Das Kulturamt der kleinen belgischen Stadt hatte im Rahmen der deutsch-belgischen Freundschaft zu einem Abend voller neckischer Anekdoten eingeladen. „In Deutsch“, verhieß das Plakat, und da Bressons Mutter Deutsche war, sprach Marcel infolgedessen ein französisches Deutsch, wie Fernsehzuschauer es von Alfons in Puschel TV kannten. Zu später Stunde waren Marion und Marcel an diesem amüsanten Abend auch privat ins Gespräch gekommen und man schwor sich beim letzten Glas Merlot, in Kontakt zu bleiben.
Oft sah die Realität am nächsten Morgen anders aus. Marion war ohne große Abschiedsszene zurück in ihre Heimat abgereist. Allein wegen der Distanz wäre eine Beziehung zwischen ihr und Marcel unpraktisch gewesen, obwohl sie ledig war und als Lehrerin in den frühen Sechzigern nicht wählerisch.
Für Marcel gestalteten sich die Ereignisse dieses Abends allerdings zu einem Schlüsselerlebnis. Der Applaus und die aufgeregt gackernde Gesellschaft der weiblichen Zuhörer, von denen sogar eine ein Autogramm auf ihrem Arm von ihm haben wollte, veranlassten ihn, am folgenden Tag auf den Dachboden seines Elternhauses zu steigen und in längst vergessenen und verstaubten Utensilien der Vergangenheit zu wühlen. Er suchte nichts Geringeres als die Tagebücher seines Großonkels Jules Bresson. Wie es der Zufall wollte, hatte Marcel als kleiner Junge von seinem Großonkel erfahren, dass er am Ersten Weltkrieg teilgenommen hatte. Das wollte er genau wissen, vielleicht auch, weil er in den Besitz einer Geschichte gelangen könnte, die am Ende Marions Herz für ihn in Wallung bringen würde.
Baracke 8
Jacques war es nicht gewohnt, Holzschuhe an seinen Füßen zu tragen, entsprechend stelzig lief er auf die Eingangstür von Baracke 8, seinem neuen Zuhause, zu. Es drückte bereits jetzt am dicken Zeh seines rechten Fußes, aber es war zwecklos, sich darüber zu beklagen. Ein müdes Lächeln seiner Landsmänner wäre der größte zu erwartende Trost gewesen.
Achtbettkammern kannte er aus der Kaserne und der Jugendfreizeit. Eine Halle mit hundert Betten überstieg seine Vorstellungskraft, aber genau eine solche Behausung sah er vor sich. Ein milchiger Dunst durchzog die Bretterburg. Es roch nach Schweiß von Füßen und Achseln. Hemden hingen zum Trocknen auf Leinen und überall lagen Strümpfe herum. Die Insassen kamen von der Arbeit und alle waren erpicht darauf, möglichst schnell ihre Kleidung zu trocknen. Sonst lief man Gefahr, in der Nacht zu frieren.
Jacques dachte darüber nach, warum fast alle Betten in der Mitte des Raumes belegt waren. Es schien ihm widersinnig, da man während der Nacht nicht unbedingt von schnarchenden und keuchenden Nachbarn umringt sein wollte. Ein Bett am Rande würde er vorziehen.
Nach einer ersten ernüchternden Orientierung schaute er sich um und sah, wie Liam den Raum betrat und sofort, ohne der gesamten Situation einen würdigenden Blick zu schenken, das erstbeste Bett nahe der Mitte in Beschlag nahm. Es kostete ihn einen Augenblick Bedenkzeit Liam anzusprechen, da es nicht so aussehen sollte, als liefe er ihm nach.
„Du badest gern in der Menge. Ich hoffe dir hängt kein Fuß im Gesicht, wenn du von den struppigen Mädels auf deiner Insel träumst.“
Jacques wollte nicht direkt mit der Frage heraus, warum Liam sich so zielstrebig für die Mitte als Ort für seine Nachtruhe entschieden hatte.
„Warst du bei den Royal Irish Rifles? Ihr Iren kämpft mit euren Erzfeinden, den Briten, Schulter an Schulter. Was ist los mit euch?“
„Eigentlich mögen wir die Deutschen, aber die sprechen kein Englisch. Deswegen traut sich kein Ire an der deutschen Seite der Front zu kämpfen.“
„Eine simple Erklärung. Sehe schon, für Politik interessierst du dich nicht sehr. Was dagegen, wenn ich hier kurz sitzen bleibe? Ich muss mir meinen Zeh reiben. Die verdammten Klotschen sind mir zu hart.“
„Kannst hier dein Quartier aufschlagen. Ist wärmer als am Rand. Du musst aufpassen, dass du keine Blasenentzündung kriegst, das tut weh und du pinkelst ins Bett. Die Matratzen sind mit Stroh gefüllt. Das stinkt wie im Schweinestall. Die Männer, die am Rand schlafen, sind öfter undicht, weil es dort kälter ist. Der Wind pfeift durch die Bretterritzen.“
Jacques hatte die Information bekommen, nach der er gesucht hatte, ganz ohne sich die Blöße der Unkenntnis zu geben.
„D’accord. Bleib ich also hier. Bist du vorher in einem anderen Lager gewesen?“
„In Eire. Sie nennen es workhouse. Ist aber falsch, da es dort keine Arbeit gibt.“
„Und warum vergleichst du ein workhouse mit einem Gefangenenlager? Entschuldige, aber warst du da freiwillig?“
„Mit sechs Jahren entscheidest du nicht über Freiwilligkeit.“
„In dem Alter wurdest du von deiner Mutter getrennt. Ich weiß. Wohl auch nicht freiwillig?“
„Unser landlord hat uns aus unserem cottage und von unserem Feld vertrieben. Wir mussten hungern. Mein Vater war an Gicht erkrankt und konnte nicht arbeiten. Da sind wir alle ins workhouse gegangen.“
„Du willst mir nicht sagen, warum du von deiner Mutter getrennt wurdest?“
„Ich habe sie täglich sehen können, wenn es Essen gab und das workhouse nicht überfüllt war.“
„Weißt du, was ich an dir schätze? Du redest nicht wie eine Frau. Wenn mich hier eins ankotzt, dann die tristen Gesichter und die Banalität der Provinz. Ruhig Blut, Jacques! Die Deutschen haben dein Leben verschont. Sei dankbar! Ein bisschen Reden würde ablenken, verstehst du? Wenn ich dir alles aus der Nase ziehen muss, kommt kein Spaß auf. Meinst du, du könntest ein normales Gespräch führen?“
„Um dir zu gefallen?“
„Um diesem gottverdammten Ort einen Funken Zivilisation einzuhauchen. Ich komme aus St. Germain bei Paris. Schon gehört, Rosskopf? Da fahren teure Autos über die prunkvollen Alleen. Da vergeht dir Hören und Sehen. Von den Frauen in den Karossen ganz zu schweigen. Ich will ja nicht, dass du Cancan für mich tanzt, nur mal was von ganz alleine sagen. Das wäre ein Stückchen Normalität in dieser welken Hütte, und würde unserem miserablen Schicksal trotzen.“
„Kommst du vom Theater?“
„Erzähl mir endlich, warum du von deiner Mutter getrennt wurdest.“
„Du kennst die Armut nicht. Sie rücken morgens auf Pferden an und treiben dich aus dem Haus. Mutter, Vater und alle Kinder stehen auf der Straße im Regen. Die Tür des Hauses wird vernagelt. Du besitzt lediglich, was du am Leibe trägst. Es bleibt nur der Weg ins СКАЧАТЬ