Название: Die Blaue Revolution
Автор: Peter Staub
Издательство: Автор
Жанр: Зарубежная публицистика
isbn: 9783038053699
isbn:
Der Klimanotstand war aber allerdings schon vorher soweit anerkannt, dass sich sogar die Menschenrechtsorganisation Amnesty International damit auseinandersetzte. «Millionen von Menschen leiden bereits jetzt unter den Folgen extremer Katastrophen, die durch den Klimawandel verschärft wurden: von anhaltender Dürre in Subsahara-Afrika bis hin zu tropischen Stürmen über Südostasien, der Karibik und dem Pazifik. Da der Klimawandel nicht nur für die Natur, sondern auch für die Menschheit verheerende Folgen hat, ist er eines der drängendsten Menschenrechtsthemen unserer Zeit», heisst es auf der Webseite von Amnesty International. Und weil der Klimawandel die bestehenden Ungleichheiten vergrössert, werden Menschenrechte «durch die globale Erwärmung direkt bedroht: das Recht auf Leben, Wasser, Nahrung, Zugang zu Sanitätseinrichtungen und auf eine angemessene Unterkunft.»
Die immer extremeren Folgen der Klimaerwärmung gefährden heutige und zukünftige Generationen unmittelbar. «Beim Engagement für den Klimaschutz geht es deshalb ums Überleben,» konstatiert Amnesty International. Doch nicht nur diese Gefahren machen der Menschenrechtsorganisation zu schaffen, sondern auch dass «in verschiedenen Weltregionen Umweltaktivist*innen bedroht, manche sogar ermordet» werden. Laut Global Witness wurden allein im Jahr 2017 über 200 Umweltschützer*innen getötet, weil sie ihr Land und dessen natürlichen Ressourcen verteidigten.[21]
Carola Rackete zitiert dazu in ihrem Buch «Handeln statt Hoffen» den UNO-Bericht Climate Change and Poverty aus dem Jahr 2019, der ebenfalls darauf hinwies, dass der Klimawandel «für Menschen, die unter Armut leben, verheerende Folgen haben» wird. Selbst im besten Fall werden Hunderte Millionen Menschen von Ernährungsunsicherheit, erzwungener Migration, Krankheit und Tod bedroht sein. «Der Klimawandel bedroht die Zukunft der Menschenrechte und birgt das Risiko, dass die Fortschritte der letzten 50 Jahre in den Bereichen Entwicklung, globale Gesundheit und Armut zunichte gemacht werden.»[22]
Für Rackete ist es deshalb eine Frage der Klimagerechtigkeit, anzuerkennen, dass «die Menschen, die am wenigsten zu diesem Desaster beigetragen haben, es am frühesten und am heftigsten zu spüren bekommen.» Die Folgen der Klimakrise werden zunächst vor allem jene Teile der Erde betreffen, in denen die Menschen viel schlechter geschützt sind als in den Industrieländern. «Diese Menschen besitzen keine Versicherung für ihre Häuser, keine medizinische Versorgung, keine Infrastruktur für Rettungsdienste.»[23]
Der Schweizer Chemie-Nobelpreisträger Jacques Dubochet bringt es den Punkt, wenn er sagt, die Menschheit stehe vor der grössten Herausforderung, die es je gab. Sein öffentliches Engagement gegen die Klimakrise begründet er so: «Ich bin seit kurzem Grossvater. Im Jahr 2100 wird unser Enkel 81 Jahre alt sein. Mit grosser Wahrscheinlichkeit werden dann die Lebensumstände wegen der Klimaerwärmung sehr schwierig sein. Es wird wahrscheinlich eine chaotische Welt sein, wenn wir die Lage nicht unter Kontrolle bringen, und zwar schnell.»[24]
Tatsächlich sprach sich Ende 2019 langsam herum, dass es allmählich höchste Zeit war, zu handeln. Der Grossteil der verantwortlichen Politiker*innen hatte es seit dem Umwelt-Gipfel der UNO in Rio von 1992 versäumt, in die Gänge zu kommen. Unterdessen ist es zwar bis weit ins bürgerliche Lager hinein Kosens, dass etwas getan werden muss. Aber Lösungen, die etwas kosten und die gezwungenermassen einen Teil des Lebensstils der satten Mehrheit in den industrialisierten Staaten infrage stellen, lassen weiterhin auf sich warten. Noch immer glauben zu viele, man müsse bloss ein paar Schräubchen am Getriebe des Systems anders einstellen.
Da braucht es neben den Naturwissenschaftler*innen auch Historiker*innen wie Philipp Blom, die Klartext sprechen: «Es geschieht alles viel zu langsam! Wenn wir erst 2050 tatsächlich carbonfrei werden, hat London die gleichen Sommertemperaturen wie Barcelona.» Blom wies Ende 2019 unmissverständlich darauf hin, dass nun «sehr schnelle radikale Handlungen notwendig wären.» Und er stellte zurecht die Fragen, ob die Fridays for Future-Bewegung stark genug sein wird, um die herrschenden Verhältnisse zu ändern, und was mit den globalen Konzernen geschehen muss, die sich bisher der demokratischen Kontrolle weitgehend entziehen.[25]
Auf diese Konzerne kam auch der Schweizer Autor Beat Ringger in seinem «System-Change-Klimaprogramm» zu sprechen: «Sechs der acht umsatzstärksten Unternehmen der Welt sind Öl- und Gaskonzerne – und auf den Plätzen 9 und 10 folgen die beiden weltweit grössten Autokonzerne. Diese Konzerne verteilen Geld, Macht, Privilegien.»[26] Und sie sind nicht bereit, ihre Macht und ihr Geld einfach so aufzugeben. Deshalb plädierte Ringger für «eine Ausweitung der Demokratie gegenüber der Macht der Konzerne.»[27]
Davon wird noch die Rede sein.
Bleiben wir kurz bei den Öl- und Autokonzernen. Dass sie sich so wichtigmachen konnten, hatte mit dem «Auto-Zeitalter» zu tun, wie es der amerikanische Wirtschaftsprofessor Jeremy Rifkin nennt: «Das Automobil war der Anker der zweiten industriellen Revolution.» Ein Grossteil des Weltbruttoprodukts war im 20. Jahrhundert auf die Produktion und den Verkauf der Abermillionen von Autos, Bussen und Lastwagen sowie auf alle Sektoren zurückzuführen, die dazu beitrugen. Dazu gehörten auch «alle Branchen und Unternehmen, die vom ‹Auto-Zeitalter› und dem Aufbau neuer Städte und Vororte profitierten, einschliesslich der Immobilienbranche, Einkaufszentren, Fast-Food-Ketten, Reisen und Tourismus, Themenparks und Technologie Parks … die Liste ist endlos.»[28]
Allerdings sieht Rifkin hier bereits eine schleichende Revolution im Gang, die sich auch in der Schweiz abzeichnet; die Veränderung des Mobilitätsverhaltens. In den grossen Städten der Schweiz, etwa in Basel oder Bern, verfügt bereits heute die Mehrheit der Haushalte über kein eigenes Auto mehr. Parallel dazu boomen Carsharing-Unternehmen wie die Genossenschaft Mobility. Rifkin analysiert die Veränderung des Verkehrssektors als «völligen Umbruch der Mobilität und Logistik auf der ganzen Welt». Dieser werde «eine Reihe gestrandeter Vermögenswerte» hinterlassen, deren Grösse noch nicht absehbar sei.[29] Denn Rifkin sieht es als weltweiten Trend, dass in städtischen Gebieten junge Menschen den Zugang zur Mobilität dem Besitz von Fahrzeugen bevorzugen. «Künftige Generationen werden in einer Ära intelligenter und automatisierter Mobilität wahrscheinlich nie mehr Fahrzeuge besitzen.»
Doch bis sich diese Entwicklung global auf die CO2-Produktion auswirkt, geht es viel zu lange. Abgesehen davon, dass in den automobiltechnisch noch unterversorgten, aufstrebenden Schwellenländern die Menschen danach gieren, auch endlich ein Auto zu besitzen. Im Jahre 2019 krochen gemäss Rifkin «1,2 Milliarden Autos, Busse und Lastwagen in dichten städtischen Gebieten auf der ganzen Welt herum.» Auch wenn Rifkin mit seiner Einschätzung richtig liegt, dass 80 Prozent dieser Fahrzeuge, «im Laufe der nächsten Generation durch die weitverbreitete Einführung von Carsharing-Diensten beseitigt werden»[30], stossen sie noch jahrelang täglich ihre CO2-Wolken aus.
Die Klimaerwärmung wird sich also weiter verschärfen. Ausser wir stoppen sie. Was nur global koordiniert möglich ist. Harald Lesch, Professor für Astrophysik in München, spricht deshalb davon, dass «eine global agierende Gesellschaft Brücken bauen sollte, statt Grenzen zu ziehen.» Der Trend sah zumindest bis zur Coronakrise ganz anders aus. Wie Lesch richtig erkannt hat, leben die Verlierer des herrschenden Systems in Afrika, in Asien und in Südamerika. «Irgendwann werden sie vor unserer Haustür stehen und ihren Anteil fordern. Da können wir nicht einfach sagen ‹Zurück mit euch!›, weil wir massgeblich für ihre Fluchtursachen verantwortlich sind.» Lesch meint, dass es solche «globale Ausgleichsströmungen» geben werde, «solange wir uns nicht solidarisch erklären mit allen anderen auf diesem Planeten.»
Die weltweite Migration wird neben dem Klimawandel das Problem der Zukunft sein: «Wir dachten immer, wir könnten unsere Abfälle in die Meere, die Atmosphäre oder den Boden entsorgen, jetzt kommt die Retourkutsche. Wir haben auf viel zu grossem Fuss gelebt СКАЧАТЬ