„… dass die Welt zwischen den Liebenden verbrannt ist“. Richard A. Huthmacher
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      Dieser Vorgang wird euphemistisch „Fixierung“ genannt; er wird, mit oder ohne richterlichen Beschluss, millionenfach praktiziert, nicht nur in psychiatrischen Anstalten, sondern auch und mehrheitlich in Alters- und Pflegeheimen.

      Durch die „Fixierung“ und ähnliche Maßnahmen (wie beispielsweise die Verabreichung von Neuroleptika, die nichts anderes sind als eine chemische Art der Fixierung) gestattet man den Herrschern, d.h. den zur Gewaltanwendung Berechtigten, die totale Kontrolle über die Beherrschten (Doppel- und Mehrdeutigkeiten der gewählten Begriffe sind durchaus beabsichtigt und ganz und gar nicht zufällig).

      „Ausgenommen hiervon sind Maßnahmen, bei denen die begründete Gefahr besteht, dass die Betroffene einen schweren oder länger andauernden gesundheitlichen Schaden erleidet oder stirbt. Darüber wird das Gericht gesondert entscheiden“, so der furchtbare Jurist auf Seite 1 seines Beschlusses.

      Der Erzähler muss unweigerlich, auch im Zusammenhang mit dem Kriegsende vor siebzig und der Wiedervereinigung vor fünfundzwanzig Jahren, an den aufhaltsamen Aufstieg des Arturo Ui denken und an Brechts Satz: „Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das Ungeheuer kroch.“

      Wie aus den zuvor wiedergegebenen Dokumenten ersichtlich, hatte man – sozusagen in einer konzertierten Aktion des medizinisch-industriellen Komplexes, hier vertreten durch den kriminellen Prof. Neunmalklug, und staatlicher Institutionen, nämlich den die Unterbringung und Anwendung von Zwangsmedikation und zwangsweiser Fesselung beschließenden Richter und die die Betreuung verfügende Präsidentin des Amtsgerichts, als deren Schergen – innerhalb von zwei Tagen „den Sack zugemacht“: Am 22. Juno fand Marias Zwangsverschleppung statt, am selben Tag noch versetzte man sie durch eine Überdosis ins Koma (möglicherweise wollte man sie nicht nur für den anstehenden Besuch des Richters außer Gefecht setzen, sondern gar ermorden), einen Tag später, also am 23. Juno, beschloss der verfügende Richter die zuvor benannten Zwangsmaßnahmen, und einen weiteren Tag später wurde Marias De-Facto-Entmündigung und vollständige Entrechtung durch den Betreuungsbeschluss (so die euphemistische Bezeichnung) komplettiert.

      Innerhalb von zwei Tagen also hatten der medizinisch-industrieller Komplex und seine staatlichen Handlanger aus einer blitzgescheiten und hochsensiblen Intellektuellen und Wissenschaftlerin eine fast zu Tode geschundene Gefangene gemacht, die man weiterhin an Leib und Leben fast nach Belieben schänden konnte, ohne dass sie Aussicht hatte, je wieder ihre Peinigern loszuwerden.

      Und nur, weil sie, Maria, in Treu fest zu ihrem Mann stand. Zu ihrem Mann, der Schwerstkranke heilen konnte. Mit geringem Aufwand, für wenig Geld. Und sich damit die Profitgier des medizinisch industriellen Komplexes und seiner Spießgesellen zum Feind gemacht hatte. Auf Leben und Tod. Im wahrsten Sinne des Wortes.

      DAS DRAMA GEHT ZU ENDE

      Als sich der Sarg, hellbraun, an bemalte Pappe erinnernd, sicherlich nicht gerade eichen-stabil, indes massiv genug, das Häufchen Mensch zu tragen, das Maria zu Ende ihres Lebens gewesen, als sich der Sarg mit dem eher ärmlich und erbärmlich als üppig wirkenden Rosenbouquet langsam ins Grab senkte, bedächtig geradezu, als ob es jetzt noch etwas zu bedenken gäbe, erinnerte sich Reinhard unvermittelt an die Ereignisse der letzten Wochen, die sich, ähnlich einem Film, vor seinem inneren Auge abspulten:

      Tapfer, mit dem Mute der Verzeiflung, mit all ihrer Kraft hatten Maria sich dem Wahnsinn, den man schulmedizinische Behandlung nennt, verweigert. Gleichwohl widerfuhr auch ihr, letztendlich, das geradezu typische Schicksal Sterbenskranker, wurde ihr, gnadenlos, aufgezwungen, was man nur allzu gerne einer unwissenden Masse als menschlichen Umgang mit Todkranken weiszumachen versucht.

      Ein Männerchor sang, unmelodisch, brummend, sang einen Choral, den Reinhard nicht kannte. Alles schien ihm unwirklich, surreal, als träumte er, einen schlimmen Traum zwar, aus dem er jedoch bald erwachen würde. Und dann wäre alles wie früher.

      Aber nichts war jemals wieder wie zuvor.

      Der Pfarrer brabbelte seine Standard-Grabesrede. Zwar hatte Reinhard ihm eindringlich geschildert, was geschehen, hatte ihn um ein paar aufrichtige Worte gebeten; dem geistlichen Herrn indes, bayerisch-katholisch und obrigkeitsunterwürfig, war der Verstand so vernebelt und das Gefühl so verwässert, dass Reinhard ihm seine Feigheit nicht einmal für übel nahm.

      Zuvor, in der Friedhofskapelle, hatte der Pfarrer die Verstorbene gesegnet. „Welch´ heuchlerisch bigotter Brauch“, dachte Reinhard, „die Lebenden tritt man mit Füßen, die Toten werden gesegnet – „De mortuis nihil nisi bene“ erschien ihm geradezu paradigmatisch für das Zeitalter des schönen Scheins.

      Früher, zu Beginn seiner ärztlichen Tätigkeit, hatte sich Reinhard viel mit Sterben und Tod, mit den existentiellen Fragen des Seins beschäftigt; nicht von ungefähr war er zunächst als Medizinpsychologe und -soziologe tätig gewesen, hatte sich dann der Psychiatrie zugewandt, weil er – irrtümlich, wie sich herausstellen sollte – glaubte, sich dort, an der Schwelle zur Philosophie, mit den Grenzgebieten von Geist und Seele, von normal und ver-rückt, schlechterdings mit dem, was den Menschen und das Menschsein ausmacht, beschäftigen zu können.

      Die Religions- und Geschichtsphilosophie Jaspers´, dessen Betrachtung der Psychiatrie als Philosophie, aber auch dessen persönliche Integrität, die zum Bruch mit dem sich den Nazis andienenden Heidegger führte, hatten ihn beeindruckt.

      Reinhard, Nachgeborener, Spross eines in die ruhmreichsten zwölf Jahre deutscher Geschichte Verstrickten, wollte, wie sein Vordenker Jaspers, nicht Einstellungen und Überzeugungen dem schnöden Erfolg opfern.

      Insofern ehrte es Reinhard geradezu, dass auch gegen ihn ein Publikationsverbot verhängt wurde – wie von den Nazis gegen Jaspers. De facto verhängt wurde. Ohne dieses Verbot formaliter je auszusprechen.

      Auch insofern unterscheidet sich die Jetzt-Zeit von unserer so ruhmreichen Vergangenheit. Wenn auch die Lebenswirklichkeiten, erlaubt sich der Erzähler anzumerken, einander nicht selten ähnlich sind.

      Namentlich durch Maria, promovierte Philosophin, wurde Reinhard dann auch mit dem philosophischen Werk von Kant und Spinoza bekannt; mit Nietzsche und Kierkegaard hatte er sich zuvor schon beschäftigt. Diese Philosophen jedenfalls, die auch auf Jaspers starken Einfluss ausgeübt hatten, beeinflussten Reinhard außerordentlich, und in solchem Kontext begann er seine psychiatrische Ausbildung, nicht ahnend, welch barbarische Schlächter in dieser Disziplin überwiegend zu Gange sind. Die nichts wussten, nicht einmal erahnten von den psychosozialen Zusammenhängen, die nicht nur das Leben jedes Menschen tiefgreifend beeinflussen, sondern auch sein Sterben maßgeblich bestimmen.

      Über diese soziale Bedingtheit von Sterben und Tod hatte Reinhard, nicht ahnend, dass solch akademischen Wahrheiten viele Jahre später seine höchstpersönliche Wirklichkeit werden sollten, vieles geschrieben; er erinnerte sich am offenen Grab Marias noch an fast jedes Wort.

      Plötzlich schüttelte ihn ein heftiges Schluchzen, schnürte seinen Hals, würgte seine Kehle; derart heftig, dass er zu ersticken glaubte. Tränen liefen über seine Wangen, salzig, fast klebrig, wie er schmeckten konnte. Er wollte schreien, brüllen, aus Leibeskräften, aber kein Laut entrang sich. Unter ihm schwankte der Boden, Geräusche drangen an sein Ohr wie in Watte gehüllt. Nur schemenhaft erkannte er die Umgebung, Farben verschwammen zu einem dunklen Grau, ähnlich dem des Himmels an einem regengepeitschten Novembertag.

      Sein Atem ging heftig, er atmete geradezu panisch, rang nach Luft, als würde er ertrinken. Die Leere in seinem Kopf wurde zunehmend größer, sein Herz raste, der Puls in seinen Ohren hämmerte. Merkwürdig weich wurden seine Beine, die Knie wollten ihm nicht mehr gehorchen. Dann sah er nur noch schwarz.

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