Название: Marseille.73
Автор: Dominique Manotti
Издательство: Автор
Жанр: Триллеры
isbn: 9783867548366
isbn:
Er hat es sich in einem Liegestuhl auf seinem Balkon bequem gemacht, mit einer Tasse Espresso und einem guten Buch, Der Tag der Eule von Sciascia. Palermo-Marseille, Parallelen, Unterschiede. Noch nicht die große Hitze, der Vieux-Port zu seinen Füßen, Notre-Dame-de-la-Garde gegenüber, weiß vor einem riesigen blauen Himmel. Lass los, vergiss die Stadt am Rande des Nervenzusammenbruchs, genieß den Augenblick.
Telefonklingeln. Er steht knurrend auf, hebt ab.
»Théo?« Die Stimme von Vincent.
»Bist du schon aus dem Urlaub zurück?«
»Ja. Meine Kanzlei hat mich gestern Abend angerufen, Schlägerei mit Schusswechsel zwischen Kleinganoven, ein Toter, eine schöne Gelegenheit, mich zu bewähren, meine Karriere wird durchstarten, wenn ich erfolgreich bin. Ich habe mich verführen lassen und bin gestern Nacht zurückgekommen. Lädst du mich für heute Abend zu dir zum Essen ein?«
»Einverstanden, aber es gibt Vorratskost, ich improvisiere mit dem, was ich dahabe, ich habe absolut keine Lust, einkaufen zu gehen.«
»Das wird perfekt, wie immer. Ich muss Schluss machen, ich hab zu tun, bis heute Abend.«
Daquin legt auf. Vincent, ehemaliger Kommilitone von der Pariser Jurafakultät, in den Jahren, als ihre Generation den Sittenaufstand probte und einige, darunter Daquin, Vincent, viele ihrer Freunde, das Glück entdeckten, zu ihrer Homosexualität zu stehen. Nicht an der Jurafakultät, zu traditionalistisch als Milieu, aber Paris bot so viele andere Gelegenheiten …
In Marseille sieht das anders aus. Vincent, der im Begriff ist, sich als Anwalt in einer auf die Verteidigung von Gangstern spezialisierten großen Kanzlei der Stadt zu etablieren, ein sicheres und angesehenes Berufsfeld, legt Wert darauf, sich nicht zu kompromittieren, und behandelt ihre Liebesaffäre mit höchster Diskretion. Er hat Daquin lang und breit erklärt, dass ein junger Commissaire von siebenundzwanzig, obendrein Pariser, in Marseille seine Homosexualität nicht öffentlich zeigen, nicht einmal erahnen lassen darf, andernfalls wird er aus der Polizei und der Stadt verstoßen. Deshalb unterhalten die beiden Männer eine heimliche, episodische, lauwarme und bequeme Affäre, während sie auf bessere Zeiten warten. Heute Abend wird er Vincent wiedersehen, er fühlt sich mit einem Mal wie unter Hausarrest. Frustrierend.
Er geht zurück zum Balkon, um wieder in sein Buch abzutauchen. Stopp, Warnlicht. Vincent, auf die Verteidigung von Großgangstern spezialisierte Kanzlei, »gestern Abend Schlägerei, Kleinganoven, ein Toter, schöne Gelegenheit, meine Karriere wird durchstarten«, er selbst hat nichts davon gehört, da ist etwas faul … Neugier. Das ist immerhin mein Job, selbst im August … Er greift nach dem Quotidien de Marseille, der auf dem Couchtisch liegt und den er fest vorhatte nicht zu lesen, blättert darin. Wie es sich für das Wochenende vom 15. August gehört, war gestern nichts los. Oder fast nichts. Auf Seite 2 (bedeutsamer als die Lokalnachrichten auf Seite 5) unter der Überschrift »Zoff in Vallon des Tuves«:
»Auslöser für die Prügelei war eine junge Frau … Es fielen Schüsse … Ein Toter, ein Verletzter … beide gebürtig aus Algerien …«
Vincent und seine Kanzlei sollen sich für diese Geschichte interessieren? Unendlich unwahrscheinlich. Aber dann, in der letzten Zeile des Artikels: »… der Chef der Sûreté ist am Tatort.« Man fährt so schweres Geschütz auf wegen einer Prügelei unter Nordafrikanern um ein Mädchen? Ganz sicher nicht. Steckt also etwas anderes dahinter? Vincents Einsatz bei diesem Fall rückt wieder in den Bereich des Möglichen.
Er ruft Inspecteur Michel an, der die Tagesbereitschaft allein sicherstellt. Ja, er ist über Vallon des Tuves auf dem Laufenden, ja, er hat den Staatsanwalt erreicht, nein, nichts für uns, eine Schlägerei zwischen rivalisierenden Banden mit bösem Ende, der Staatsanwalt und der Chef der Sûreté haben sich darauf geeinigt, die Sûreté mit der Ermittlung zu beauftragen. »Du kannst weiterfaulenzen.«
Unnötig, heute ins Zentralkommissariat im Évêché zu gehen, ich werde nicht mehr in Erfahrung bringen. Vincent wird später nicht widerstehen können zu plaudern, sich wichtig zu machen … Er versenkt sich wieder in die Lektüre vom Tag der Eule.
Vincent kommt gegen Abend, eine Flasche Champagner in der Hand. Die Männer setzen sich auf den Balkon und köpfen die Flasche. Vincent erzählt von seinem Urlaub auf den Balearen, Daquin hört nicht zu, betrachtet ihn. Ein schöner Mann. Er erinnert sich an ihren ersten Sex. Nicht in Paris, sondern in Marseille, das Treffen begann auch da auf dem Balkon bei einer Flasche Champagner. Er spürt wieder die Wonne der ersten Berührung des mageren, starkknochigen Gesichts, des muskulösen Körpers ohne einen Hauch Fett, des hübschen Hinterns. Er weiß, dass diese tief unter den vorstehenden Brauenbögen liegenden blauen Augen grau werden, wenn die Begierde wächst. Daquin liebt das Vergnügen, den Körper wiederzuentdecken, den seine Hand schon gestreichelt hat, die Empfindungen, die ihn zum Beben gebracht haben. Schätze dies Vergnügen nicht gering, Théo. Vergiss nicht, du bist für die Einsamkeit nicht gemacht. Er trinkt den Champagner aus, steht auf.
»Ich koche uns ein Spaghettigericht. Ich brauche eine Viertelstunde.«
»Vor oder nach der Liebe?«
»Dieselbe Frage hast du mir bei unserer ersten Verabredung vor sechs Monaten gestellt …«
»Und du hast geantwortet …«
»Erst die Liebe, dann das Kochen.«
Zwei Stunden später sitzen sie zusammen vor einer Schüssel Spaghetti mit Knoblauch, Piment und Olivenöl. Vincent ist euphorisch.
»Diese Spaghetti, die Krönung eines goldenen Tages.«
»Vallon des Tuves lässt sich gut an?«
Vincent schreckt auf. »Der Staatsanwalt sagte, er würde nichts verlautbaren …«
»Gerüchte verbreiten sich schnell im Haus. Aber ich dachte, du interessierst dich nur für die Verbrecherelite.«
»Die Verbrecherelite hat auch Handlanger, die sich in ihrer Freizeit zu Dummheiten hinreißen lassen, und ich wiederum muss mich bewähren.«
Noch ein Glas Côtes-du-Rhône, und Vincent geht etwas mehr aus sich heraus: »Das Schwierigste für mich ist, meinen Klienten zu einem Schuldbekenntnis zu überreden. Die Leute in der Gegend kennen ihn, haben ihn wiedererkannt, ihn schießen sehen, und er besteht darauf, irgendwelchen Unsinn zu erzählen. Wenn er sich vor dem Schwurgericht in Aix schuldig bekennt, erwirke ich mildernde Umstände für ihn. Mein Klient stand drei Arabern gegenüber, als er geschossen hat. Drei Araber auf einem Haufen, das macht Angst, alle Geschworenen werden dem zustimmen. Also Notwehr und Bewährung. Und das wäre eine hervorragende Visitenkarte für meine künftige Karriere.«
Eine Verteidigung, die stinkt und wahrscheinlich funktioniert. »Deine Karriere … Weißt du noch, dass wir dich an der Uni den idealen Schwiegersohn nannten?«
Vincent verzieht das Gesicht, böse Erinnerung an erlittene Schikanen.
»Wir hatten recht. Karrieretechnisch gebe ich dir einen Rat: Verheirate dich. Schleunigst.«