Название: Marseille.73
Автор: Dominique Manotti
Издательство: Автор
Жанр: Триллеры
isbn: 9783867548366
isbn:
Vorbemerkung
Willkommen zu einem Abstecher in die Geschichte des Rassismus. Während die Côte d’Azur in der Sommersonne glitzert, das Werftgelände in La Ciotat vom Arbeitslärm widerhallt, der Duft von Couscous durch die Gassen von Marseille zieht und im alten Hafen versenkte Leichen auftauchen, liegt die militante Kolonialpolitik Frankreichs kaum mehr als ein Jahrzehnt zurück. Pieds-Noirs, Algerienheimkehrer, finden sich in allen Strukturen der Stadt und reiben sich an der Anwesenheit maghrebinischer Arbeitskräfte. In der Polizeizentrale Évêché tobt ein Kleinkrieg zwischen den Etagen, chauvinistische Seilschaften mauscheln und verwalten ihre Pfründe. Doch auch die Gegenseite schläft nicht …
Commissaire Théo Daquin ist der lange Arm Dominique Manottis, mit ihm greift sie in die Vergangenheit und knöpft sich die Gemengelage vor, die in Frankreich den radikalen Nationalismus zur Blüte trieb. Im Spannungsfeld schwelender sozialer Konflikte, selbsternannter Scharfrichter und mehr oder weniger subtil hetzender Medien muss Daquin mit seinen Inspecteurs alle Register ziehen, um die Wahrheit ans Licht zu bringen. Der politisierten Leserin drängen sich bei der Lektüre Parallelen zu Ermittlungspannen um die NSU-Morde auf, und das ist nicht die einzige schmerzhafte Aktualität in diesem historischen Roman policier. Manotti erweckt die sich bekriegenden Interessen zum Leben, gießt sie in Figuren, deren Treiben und Streben sich zu einem fesselnden Ermittlungsthriller fügt, zutiefst noir, hochpolitisch und so rasant wie sinnlich. Großes Kino. Else Laudan
Ein Personenverzeichnis sowie eine Erläuterung zur Organisation der Marseiller Polizei 1973 hat Dominique Manotti diesem Roman nachgestellt. Wir haben für deutsche Leser*innen ein Glossar mit Begriffen, Organisationen und Abkürzungen ergänzt (im Text fett markiert).
Prolog
1973. Grasse, reizendes provenzalisches Städtchen mit seinen Blumen, seinen Düften, seinen dreißigtausend Einwohnern und knapp tausend zugewanderten Arbeitskräften, häufig aus Tunesien, Landarbeiter, Bauarbeiter, allesamt Schwarzarbeiter.
Im Herbst 1972 beschließt die französische Regierung, die migrantische Bevölkerung strenger zu kontrollieren als bisher. Der Runderlass Marcellin-Fontanet verlangt, dass Einwanderer, die sich in Frankreich niederlassen wollen oder dort bereits ansässig sind, einen Arbeitsvertrag und eine »anständige« Wohnung vorweisen müssen, ehe sie eine Aufenthaltserlaubnis erhalten und so »legalisiert« werden. Damit wechseln 86 Prozent der Immigranten in Frankreich von der Rubrik »Schwarzarbeiter« in die Rubrik »illegale Arbeitskräfte« und bilden von einem Tag auf den anderen eine neue Kategorie, die der »Sans-Papiers«, der »Illegalen«: ab Sommer ’73 Abschiebekandidaten.
Als der Termin näherrückt, an dem das Gesetz in Kraft treten soll, wirft sich die nationalistische rechtsextreme Bewegung Ordre nouveau in die Bresche, die die Regierung geschlagen hat, und lanciert am 9. Juni 1973 die landesweite Kampagne »Stoppt die wilde Einwanderung«.
In Grasse wie andernorts fühlen sich die eingewanderten Arbeiter bedroht. Sie haben weder Arbeitsvertrag noch anständige Unterkunft. Am 11. Juni 1973 halten sie in der Altstadt, wo viele von ihnen in Bruchbuden leben, eine Versammlung unter freiem Himmel ab und beschließen, am nächsten Tag für Arbeitsverträge und anständige Unterkünfte zu streiken. Über Nacht bedecken sich die Mauern der Stadt mit Schwarzweißplakaten, der Slogan »Stoppt die wilde Einwanderung« trägt den Stempel des Ordre nouveau.
Viele folgen dem Streikaufruf für den 12. Juni, zwei- bis dreihundert Streikende versammeln sich am Morgen vor dem Rathaus von Grasse. Sie verlangen, dass der Bürgermeister eine Delegation empfängt, die ihm ihre Forderungen vortragen soll.
Statt die Delegation zu empfangen, ruft der Bürgermeister die Feuerwehr, lässt die Arbeiter mit Wasserwerfern auseinandertreiben und fordert zur Verstärkung die Bereitschaftspolizei CRS (Compagnies Républicaines de Sécurité) an.
Am Nachmittag schlendern Gruppen von Streikenden durch die Altstadt, wo viele von ihnen wohnen, und diskutieren. Gegen 16 Uhr gehen die CRS-Truppen mit Schlagstöcken heftig gegen sie vor, die Handwerker und Händler von Grasse bewaffnen sich mit Knüppeln und schließen sich den CRS an. Die Jagd auf Immigranten bis in die Häuser hinein dauert den ganzen Abend und einen Teil der Nacht. Bilanz: fünf Schwerverletzte, zweihundert Verhaftungen.
Am nächsten Tag gründen die Einwohner von Grasse ein »Wachsamkeitskomitee der Händler und Handwerker«, dessen erklärtes Ziel lautet: »die tausende Müßiggänger loswerden, die dem guten Ruf der Stadt schaden«.
Der Bürgermeister (ein Politiker der Mitte) verkündet der einberufenen Presse: »Diese Demonstrationen von Immigranten sind absolut skandalös und stören die öffentliche Ordnung. Es ist nicht minder skandalös, dass sie nicht mit größerer Härte niedergeschlagen werden.« Er fügt hinzu: »Es ist wirklich unerträglich, wissen Sie, so von ihnen überschwemmt zu sein.«
L’Express, seinerzeit das wichtigste überregionale Nachrichtenmagazin, berichtet über die Ereignisse unter dem Titel: »Die Hexen von Grasse. Etwas Folgenschweres ist im Entstehen begriffen, und es trägt einen Namen: Rassismus.«
Mittwoch, 15. August
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