„Wir haben hier doch keine öffentliche Telefonzelle, Meister!“
Schon das zweite Mal ruft ihn der Bürgerkomiteeler an diesem Vormittag zum Telefon, und mit Unbehagen hört Benedict in die Muschel. Aber diesmal ist es nicht die barsche Stimme des „Leitenden“.
„Hallo?“
„Hallo! Na, das ist ja eine Überraschung!“
Das ist weiß Gott keine Untertreibung, denn er hat nicht mehr damit gerechnet, wieder von Annkatrin zu hören. Nach dieser Begegnung.
„Ich finde, wir sollten so nicht auseinandergehen. Ich war wohl auch etwas ... immerhin ist ja viel passiert inzwischen. Ich würde Dich gern nochmal sehen, Benny!“
„Jaaa ... selbstverständlich ...“, versucht der Hauptkommissar seine Fassung wiederzugewinnen.
„Wir könnten uns vielleicht zum Mittagessen treffen, im ,Rosengarten', am Thälmann-Park, wenn du magst. Bitte!“
„Ja gut. Dann um zwölf im ,Rosengarten'.“ Nachdem er sich mit Annkatrin verabredet hat,
will er sich wieder der Arbeitsroutine zuwenden. Aber es fällt ihm zusehends schwerer, denn immer wieder drängt sich die bohrende Frage in den Vordergrund, woher Annkatrin diese Nummer haben mochte. Eine Telefonnummer, die nur wenigen bekannt war, eine Telefonnummer im MfS.
*
„Jetzt gibt’s nüscht mehr! Wir haben Ablösung!“
Zum Bier hat es gerade noch gereicht. Nach der mürrisch erteilten Abfuhr klumpt sich das Bedienungskollektiv der HOG Rosengarten an der Theke und übt sich im Nichtstun. Jedenfalls wird es für die nächste Stunde nichts mehr geben. Kein Seelachsfilet in Bierteig gebacken für M 16.75. Während das den anderen Gästen auf der Terrasse wenig auszumachen scheint, wirft Benedict immer wieder wütende Blicke abwechselnd in Richtung Theke und auf die nutzlos gewordene Speisekarte, in der geschrieben steht: Wir begrüßen Sie in unserer gastronomischen Einrichtung. Bitte wählen Sie Ihre gewünschte Speisenfolge selbst. Als Service unseres Küchenkollektivs bieten wir Ihnen die Möglichkeit, die Gemüse- und Sättigungsbeilagen nach Ihren Wünschen zusammenzustellen. Mahlzeit!
Alles nur äußerlich. Die bunten Schirme der kapitalistischen Brausefirma und die verlockend eingedeckten Tische. Blümchen und ein blank blauer Himmel. Muffelig dreht Benedict das schon schal werdende Glas mit Pilsator zwischen seinen Händen.
„Ist doch nicht so schlimm“, versucht Annkatrin ihn zu beruhigen, „da haben wir doch schon ganz andere Sachen erlebt!“
„Ja, ja ...“, er möchte auf gemeinsame Erinnerungen nicht unbedingt näher eingehen, „aber ich frage mich, wie die Leute das überleben wollen. Ob denen wohl klar ist, was passiert, wenn die heiß ersehnte D-Mark erst mal hier ist? Dann wollen die Leute für das richtige Geld auch richtige Leistung haben, und da werden die sich hier ganz schön umstellen müssen!“
„Ach, weißt du, sich auf das jeweils Erforderliche einstellen, da bin ich unbesorgt, das können die Leute hier. Aber müssen wir das jetzt besprechen?“
Da hat sie natürlich recht. Im Grunde genommen versucht er mit seiner künstlichen Aufregung ja nur die Frage platt zu reden, die er ihr stellen will. Also ...
„Erinnerst du dich eigentlich noch an 1980? Das war kurz bevor du nach Düsseldorf gegangen bist und dich dann ... erst mal abgemeldet hast. Für längere Zeit.“
„1980. Mein Gott, das ist zehn Jahre her. Was soll da gewesen sein ?“, fühlt Benedict sich schon wieder von ihr in die Enge getrieben.
„Na, ich erinnere mich noch genau. Du warst wieder mal zu einem deiner überfallartigen Blitzbesuche bei mir aufgetaucht. Ich habe mich ja immer darüber gefreut, aber gerade an diesem Tag ... es war etwas dumm damals, weil ich ausgerechnet an diesem Tag jemanden in unserer Einrichtung zu Gast hatte, über dessen Auftritt ich sehr glücklich war. Und du warst ziemlich sauer, weil... na, du bist dann ziemlich abrupt wieder Richtung West-Berlin gedüst.“
„Ja, und?“
„Du hast unseren Gast damals auch persönlich kennen gelernt, und er schien ziemlich froh zu sein, dass er mit jemandem in seiner Muttersprache reden konnte ... der Mann hieß Dean Sanger!“
Zu vieles wirbelt Benedict durch den Kopf, als dass er in der Lage wäre, dazu etwas zu sagen. Ihre Wege hatten sich also irgendwann einmal gekreuzt. Und richtig, jetzt, wo er den ernsthaften Versuch unternimmt, die Situation im Sommer 1980 zu rekapitulieren, da kommt auch diese schemenhafte Erinnerung an ein kurzes Gespräch in diesem Jugendclub am Prenzlauer Berg. Sehr vage, sehr schemenhaft. Im Grunde genommen nicht viel mehr als die freudige Überraschung eines Menschen, der sich plötzlich frei und locker in der Sprache seiner Heimat verständigen kann.
„Warum ... erzählst du mir das? Gerade jetzt?“, wehrt er sich dagegen, dem lange zurückliegenden Treffen mit Dean Sanger irgendeine Bedeutung beizumessen.
„Berlin ist ein Dorf. Wenigstens Ost-Berlin. Man spricht so dieses und jenes. Und im Moment ist die Rede davon, dass ein Polizist aus dem Westen Erkundigungen über Dean Sangers Tod einholt. Das hat damals viele Leute hier sehr betroffen, musst du wissen. Das Interesse an ihm ist bei vielen noch groß. Er war ein wunderbarer Mensch, ein guter Freund! Ich nehme an, dass du dieser Polizist bist. Ist es das, weshalb du hier in der Hauptstadt bist?“
Benedict nimmt noch einen Schluck warme Bierbrühe und überlegt sich sorgfältig die Antwort, die er Annkatrin geben wird. Geben kann.
„Und wenn das so wäre?“
„Na ja, wenn du mir sagst, was du eigentlich genau wissen willst, könnte ich dir vielleicht weiterhelfen?“
Seine Finger umkrampfen knöchelweiß das fast geleerte Bierglas. Er starrt, ihrem so verdammt direkten Blick ausweichend, vorbei an seiner früheren Liebe, auf das Grün zwischen den Hochhäusern, wo sich ein Rudel von Hasen tummelt.
„Eigentlich möchte ich dazu nicht viel sagen. Weißt du, das hat an sich einen ganz anderen Hintergrund...“
Annkatrins Gesicht spiegelt für einen kurzen Moment Anzeichen von Enttäuschung wider. Hat sie mehr erwartet? Warum?
„Viel hätte ich dir sowieso nicht sagen können...“, fängt sie sich aber schnell wieder, „das war ja damals alles ziemlich von Gerüchten umwoben. Aber im Zentralarchiv der SED gibt es vielleicht noch Dinge, die dir bei deiner Suche weiterhelfen könnten. Die sitzen in der Wilhelm-Pieck-Straße. Ich habe da eine Freundin, ihre Telefonnummer ist...“
*
„Please, Mr. Benedict!“
Sollte er im ersten Moment den Impuls verspürt haben, der Einladung der beiden Männer nicht Folge zu leisten, so unterdrückt er ihn angesichts des Tonfalls sofort. Keine Drohung, nein, aber die Bestimmtheit von Leuten, die genau wissen, wie man eventuellen Unbotmäßigkeiten mit geeigneten Mitteln begegnet.
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