Название: World Runner (1). Die Jäger
Автор: Thomas Thiemeyer
Издательство: Readbox publishing GmbH
Жанр: Детские приключения
isbn: 9783401808840
isbn:
2
Die halbe Stunde nach dem Klingeln des Weckers war für Tim reine Routine. Duschen, Zähne putzen, frühstücken.
Wie an jedem normalen Wochentag half er seiner kleinen Schwester Emily beim Anziehen und Packen und schickte sie zur Schule. Danach hatte er noch ein paar Minuten für sich. Sein Dad war zu diesem Zeitpunkt meistens schon fort. Er arbeitete in einem Architekturbüro und kam erst abends zurück. Auf dem Klo blätterte Tim noch in einem Comic, dann verließ er die Wohnung und radelte los.
In der Metzgerei an der Ecke wurde das Mittagessen vorbereitet. Ein verführerischer Duft wehte auf die Straße und ließ ihm das Wasser im Mund zusammenlaufen. Verglichen mit dem, was er täglich in der Schulkantine vorgesetzt bekam, war Meister Müllers Mittagstisch ein Drei-Sterne-Essen.
Beim Bäcker nebenan traten sich die Leute auf die Füße. Viele wollten sich auf dem Weg zur Arbeit noch rasch etwas zu essen holen und verstopften mit ihren Autos Straße und Bürgersteig. Tim fuhr in halsbrecherischem Slalom an ihnen vorbei, trat ordentlich in die Pedale und schaffte es, die ganze Strecke in unter zehn Minuten zurückzulegen. Das war ein neuer Rekord und gut so, denn wie immer war er spät dran.
Sein Gymnasium lag am Inneren Grüngürtel, einer Parkanlage, die dem ehemaligen Festungsring der Stadt folgte und sie in einen inneren und äußeren Bezirk unterteilte. Links ragte der Fernsehturm in die Höhe, rechts kam zuerst der Aachener Weiher, dahinter die Universität.
Tim war zwar nur ein mittelmäßiger Schüler, aber er mochte den Weg zur Schule. Die Fahrt durch die Grünanlagen verschaffte ihm jeden Tag die Möglichkeit, im Park schon am Morgen den einen oder anderen guten Fund zu machen. Die Bäume, Denkmäler und Spielplätze erinnerten ihn daran, dass es überall Geheimnisse gab, die man entschlüsseln konnte. Verborgene Botschaften, Claims und Rätsel. Wenn man das einmal begriffen hatte, sah man die Welt mit anderen Augen. Vor allem jetzt, wenn die Tage endlos waren und die Luft erfüllt mit dem Vorgeschmack auf den Sommer.
Der Gedanke an die bevorstehenden Ferien machte Tim wehmütig. Viele seiner Freude würden wegfahren. Nur die wenigsten blieben den Sommer über zu Hause. Sechs lange Wochen und kaum jemand da, mit dem man etwas unternehmen konnte.
Er stellte sein Fahrrad ab und eilte auf den Haupteingang zu.
Farid wartete bereits auf ihn.
»Na, Alter«, begrüßte er ihn mit breitem Grinsen. »Alles gut überstanden? Keinen Ärger gekriegt?«
»Um den zu kriegen, müsste ja erst mal jemand zu Hause sein«, sagte Tim. »Aber Dad war nicht da. Emily hat sich natürlich gewundert. Hat angefangen, Fragen zu stellen. Ich hab ihr erzählt, ich wäre beim Ruderclub am Decksteiner Weiher gewesen und gekentert. Hat sie sofort geglaubt, schließlich weiß sie, wie schlecht ich mit Booten zurande komme.«
»Dann weiß sie von nichts?«
»Niemand weiß das, nur du und ich«, sagte Tim. »Und dabei soll es auch bleiben, okay?«
Im Nachhinein wünschte er sich, er hätte die Aktion alleine durchgezogen. Dass Farid seine Niederlage live miterlebt hatte, war nun wirklich nicht nötig gewesen. Nicht, weil Tim wie ein nasser Sack ins Wasser gefallen war – so etwas konnte immer mal passieren –, sondern, weil er schlecht vorbereitet gewesen war. Zumindest fühlte es sich so an. Dieses verdammte Zahlenschloss! Aber wie hätte er das auch ahnen können? Er hatte zu Hause alles noch einmal nachgelesen, nirgendwo hatte es einen Hinweis auf ein zusätzliches Schloss gegeben.
Egal, Farid war sein Freund und würde die Klappe halten. Auf ihn war Verlass. Und den Film konnte man löschen.
Den Kopf voller Gedanken, betrat er das Schulgebäude.
Es war Montag. In der ersten Stunde hatten sie Deutsch bei Frau Limmer. Seine letzte Arbeit hatte Tim in den Sand gesetzt. Er musste dringend mündlich ein paar Punkte machen, um nicht kurz vor der Zeugniskonferenz noch auf die Vier abzurutschen. Einziges Problem: Auf dem Lehrplan stand Lyrik. Deutscher Expressionismus am Beispiel von Gottfried Benn. Der Name des Gedichtes lautete Krebsbaracke.
Ausgerechnet!
Tims Mom war letztes Jahr gestorben. Leukämie. Seitdem war das Thema Krebs tabu für ihn. Immer wieder hatte er diese Anfälle nackter Panik, die wie eine Flut über ihn hinwegbrandeten. Er konnte nichts dagegen tun. Sie kamen völlig unangekündigt und meist in den unpassendsten Momenten. Dann kochten die Emotionen unaufhaltsam in ihm hoch. Er bekam einen Kloß im Hals, sein Herz raste, Tränen schossen ihm in die Augen. Tim kostete es seine ganze Kraft, um nicht loszuheulen wie ein Mädchen. Der Gedanke an einen weiteren Panikausbruch reichte, um seine Hände schweißnass werden zu lassen. Er vergrub sie tief in seine Hosentaschen und trabte hinter Farid her. Montage. Er hatte sie schon immer gehasst.
Das erste Mal, dass ihm auffiel, dass etwas nicht stimmte, war, als sie die Abkürzung über den Glaskasten nahmen. Glaskasten nannten sie das eigenständige Treppenhaus, über das die oberen Stockwerke leichter zu erreichen waren. Der Weg führte gefährlich nahe am Lehrerzimmer vorbei, weshalb die meisten Schüler den Umweg über das Haupthaus in Kauf nahmen.
Eine Gruppe Schülerinnen aus der oberen Jahrgangsstufe lief vor ihnen, vermutlich auf dem Weg zu den naturwissenschaftlichen Räumen. Schnatternd und sich über irgendwelche Internetstars unterhaltend, breiteten sie sich über die gesamte Treppe aus. Als sie ihn und Farid sahen, verstummten die Gespräche und die Mädchen blieben stehen. Eine von ihnen, eine Schönheit mit haselnussbraunem Haar, sah Tim an, öffnete den Mund und brach in Kichern aus. Zwei andere machten große Augen, ehe sie Farid und Tim durchließen.
Das war merkwürdig. Normalerweise guckten die Mädchen aus der Oberstufe Jungs aus den unteren Klassen wie sie nicht mal mit dem Arsch an. Dass sie stehen blieben, um sie vorbeizulassen, fand Tim eigenartig. Dass sie sogar ihre Gespräche unterbrachen, verdächtig.
Kaum hatten sie die Gruppe hinter sich gelassen, begann das Geschnatter und Gelächter wieder von vorn. Lauter als zuvor. Tim blickte zurück. »Was war denn da los? Hast du so was schon mal erlebt?«
»Was denn?«, murmelte Farid.
»Na, das da eben. Erzähl mir nicht, das wäre dir nicht aufgefallen.«
Sein Freund blickte starr zu Boden. »Kein Plan, wovon du redest.«
»Du verarschst mich …«
»Tue ich nicht. Was weiß ich, was in deren Köpfen abgeht. Ist mir auch egal.«
»Hm.« Tim war nicht überzeugt. Mädchen waren ein Dauerthema bei ihnen. Je unerreichbarer, desto interessanter. Aber es war Montagmorgen, da tickten die Uhren scheinbar anders. Schweigend gingen sie ein paar Meter, dann fing Farid wieder damit an, den letzten Abend durchzukauen. »Dir ist doch nichts passiert, oder? Ich meine bei dem Sturz. Nichts verstaucht oder so?« Er tastete an ihm herum. Tim nervte diese übertriebene Fürsorge. »Mir geht’s prima«, sagte er. »Mach dir mal nicht ins Hemd.«
»Na ja, es war ein ganz schön tiefer Fall. Hättest dir mal den Film ansehen sollen. Da kann man echt Angst kriegen.«
»Jetzt hör aber auf«, sagte Tim. »Gegen einen Kopfsprung vom Zehn-Meter-Turm war das gestern ein kleiner Plumpser.« Er verschwieg, dass СКАЧАТЬ