Название: Ende offen
Автор: Peter Strauß
Издательство: Readbox publishing GmbH
Жанр: Зарубежная публицистика
isbn: 9783347020290
isbn:
Innerartliche Aggression und Revierverhalten
Aggression ist bei Lorenz der auf den Artgenossen gerichtete Kampftrieb von Mensch und Tier. Bei Beobachtungen an einem Korallenriff in Florida stellte er fest, dass Schwarmfische eher unauffällig aussehen, und im Gegensatz dazu allein oder als Paar lebende Fische, die ortsansässig sind und ein Revier verteidigen, „schreiend bunt“ sind. Letztere seien nur ihresgleichen gegenüber angriffslustig, nicht jedoch Fischen anderer Arten gegenüber.177 Der Überlebenskampf in der Natur ist also keinesfalls ein Kampf aller gegen alle. Die innerartliche Aggression dient vor allem der optimalen Aufteilung des zur Verfügung stehenden Reviers und dazu, dass sich sinnvolle Mutationen innerhalb der Art durchsetzen.178 Es besteht hauptsächlich Konkurrenz zwischen Lebewesen einer Art – sei es beim Revierkampf oder beim Kampf um die Fortpflanzung. Kämpfe zwischen nicht artverwandten Wesen sind selten und fast ausnahmslos nicht-tödlich.179 Aggression dient nicht der Zerstörung, wie man gemeinhin vermutet. Sie hat einen stark arterhaltenden Nutzen.
„Die Gefahr, dass in einem Teil des zur Verfügung stehenden Biotops eine allzu dichte Bevölkerung einer Tierart alle Nahrungsquellen erschöpft und Hunger leidet, während ein anderer Teil ungenutzt bleibt, wird am einfachsten dadurch gebannt, dass die Tiere einer Art sich abstoßen. Dies ist in dürren Worten, die wichtigste arterhaltende Leistung der intraspezifischen Aggression.“180
Darüber hinaus kann die innerartliche Aggression einen weiteren Nutzen haben. Die Anzahl der innerartlichen Kämpfe steigt, wenn die Bevölkerungsdichte so zunimmt, dass die Nahrung knapp wird. Erinnern Sie sich an das Beispiel der Füchse und Hasen auf einer Insel aus Kapitel 2.1? Hintergrund dieser Selbstregulierung könnte sein, dass das abnehmende Nahrungsangebot für die Füchse zu Revierkämpfen und Stress führt und deren Vermehrungsfähigkeit aufgrund des hohen Stresspegels zurückgeht, oder sie verhungern zum Teil, oder hungernde Füchse töten ihre eigenen Jungen häufiger.181 Aggressivität ist lebenserhaltend: Wenn Beutetiere durch Krankheit dezimiert werden, ist es besser, die Jäger töteten sich zum großen Teil gegenseitig, als dass sie alle Beutetiere auffressen und dann gemeinsam mit diesen aussterben.182 Für die einzelnen gestorbenen Füchse ist das zwar tragisch, aber weniger Füchse benötigen weniger Hasen als Futter, so dass sich deren Population wieder erholen kann. Auf diese Weise überleben beide Arten.
Nie rotten Jäger ihre Beute aus, sondern es stellt sich zwischen dem Raubtier und seiner Beute immer ein Gleichgewicht her, das für beide Arten erträglich ist. Im natürlichen Umfeld ist es nie der Fressfeind, der die Arterhaltung einer Tierart gefährdet, sondern der besser an die Umgebung angepasste Konkurrent.183 Exemplare einer Spezies, die sich besser angepasst haben, setzen sich bei der Vermehrung durch und verdrängen langfristig die Artgenossen, die diese Mutation nicht aufweisen. Der Mechanismus dazu sind innerartliche Kämpfe um die Fortpflanzung.
Konrad Lorenz liefert mit den von ihm beschriebenen Zusammenhängen eine allgemein gehaltene Erklärung der Aggressivität. Es bleibt unberücksichtigt, dass das individuelle Niveau der Aggressivität stark von dem erfahrenen Maß an Geborgenheit in der frühesten Kindheit und durch die Menge der Gewalterfahrungen während des Aufwachsens bestimmt wird, wie bereits in Kapitel 2.4 und weiter unten in Kapitel 2.7 beschrieben. Dass manche geschlagenen Kinder sich weniger gewalttätig verhalten und andere aggressiver werden, spricht nicht gegen diese Theorie. Nicht jeder hat die gleichen Fähigkeiten, Gewalterfahrungen zu verarbeiten, weil wir Menschen unterschiedlich sind.
Ersatz für aggressive Handlungen
Aus den oben genannten Gründen – Revieraufteilung, Auswahl bei der Fortpflanzung, Verteidigung gegen Fressfeinde – dienen Kämpfe der Arterhaltung. Andererseits verbraucht jeder Kampf Kräfte und bedeutet ein Verletzungsrisiko. Die Natur hat einige Mechanismen erfunden, die Verletzungen oder den direkten Kampf vermeiden: Viele Tiere haben relativ stumpfe, kampfungeeignete Waffen wie beispielsweise nach hinten statt nach vorne gebogene Hörner. Auch eine definierte Rangordnung in einer Herde verhindert Kämpfe. Bei vielen Tieren hängt die Rangstufe mit der Größe von Muskeln und Körper oder mit dem Alter zusammen. So wurde wohl die Hierarchie erfunden, wobei sich diese vor der Sesshaftwerdung lediglich darauf erstreckte, wer bei der Paarung und beim Fressen Vorrang hatte, wer bei der Verteidigung gegen Feinde in der ersten Reihe stand und wer den Weg der Gruppe festlegte – was nicht immer ein eindeutiger Vorteil ist. Zwecks Gewaltvermeidung gibt es weiterhin Ersatzhandlungen wie Imponiergehabe und Drohgebärden, die helfen, Revierkämpfe und Kämpfe um die Rangordnung abzumildern. In der heutigen Zeit gehört auch das Fahren eines Sportwagens dazu. Statt mit jedem Fremden Krieg auf der Straße anzuzetteln, gibt man mit einem „potenten“ Auto an. Dicke Muskeln und eine verspiegelte Sonnenbrille sind einfachere Machtdemonstrationen, ein Maßanzug gepaart mit jovialen Gesten die kulturell höherstehenden – beide erfüllen den Zweck, einen Statusanspruch zu äußern, ohne dass es einer „klärenden“ Konfrontation bedarf.
Ebenso stellt jede Form von Höflichkeit eine Beschwichtigungsgeste dar, die aggressives Verhalten bei einer Begegnung verhindert. Beobachten Sie sich einmal selbst, wie Sie sich fühlen, wenn jemand Sie nicht freundlich grüßt, nicht „Bitte“ und „Danke“ sagt usw. Wir gehen selbstverständlich davon aus, das gehöre sich so, alles andere sei unverschämt. Aber was ist der Zweck dieser Gesten? Sie verhindern, dass unsere hohe Aggressionsbereitschaft automatisch zu ausgeprägtem Revierverhalten innerhalb der eigenen Gruppe führt. Beschwichtigungsgesten gibt es im Tierreich ebenso wie beim Menschen. Unterlässt eine andere Person einen Gruß oder eine Geste, die man aus Höflichkeit erwarten würde, ist man schnell irritiert. Dieselbe Reserviertheit und latente Kampfbereitschaft zeigen wir unwillkürlich gegenüber Fremden, wenn wir nicht wissen, wie wir diese einschätzen sollen.184 Schon ein plötzliches Lächeln eines Fremden, der auf uns zukommt, entspannt die Situation.
Liebesfähigkeit
Beschwichtigungsgesten sind essentiell für alle Herdentiere, die begrenzte Reviere bewohnen. Noch wichtiger sind sie für die Fortpflanzung. Die Evolution war gezwungen, dem hohen Maß an Aggressivität innerhalb der eigenen Art etwas entgegenzustellen. Balzrituale signalisieren dem „Gegner“, dass es sich nicht um einen Angriff handelt, der die Reviergrenzen klären soll, sondern um einen Annäherungsversuch, der keineswegs feindlich gemeint ist.185
Die nächsthöhere Stufe der Unterdrückung von Aggressivität zwecks Paarung ist die Ehe. Bei weniger hoch entwickelten Tieren gibt es die Ortsehe, d. h, die Partner sind über das gemeinsame Revier verbunden. Storchenpaare beispielsweise erkennen sich weit entfernt vom Nest nicht wieder, sind also nur über den Nistplatz miteinander verbunden. Bei höher entwickelten Tieren gibt es die mit starken Emotionen verbundene Ehe, die aggressionshemmend wirkt. Wie stark diese Wirkung ist, kann man sich ausmalen, wenn man sich vorstellt, man müsste dieselbe Intensität der Beziehung statt mit dem geliebten Partner mit jemand Wildfremden erleben oder mit jemandem, den man abstoßend findet.186 Liebe ist die schönste Ersatzreaktion und Ausweichhandlung zur Vermeidung von Aggressivität. Gleichzeitig ist sie eng an Aggressivität gebunden, weil sie ohne diese gar nicht benötigt würde. „Es gibt sehr wohl intraspezifische Aggression ohne ihren Gegenspieler, die Liebe, aber es gibt umgekehrt keine Liebe ohne Aggression.“187
Auch gegenüber den eigenen Kindern müssen alle Tiere Mechanismen zur Hemmung aggressiver Impulse haben, die ja gerade während der Kinderaufzucht gegenüber anderen Tieren verstärkt sind, um die Jungen zu schützen.188 Bei (höher entwickelten) Säugetieren ist dies ebenfalls eine СКАЧАТЬ