Название: Ende offen
Автор: Peter Strauß
Издательство: Readbox publishing GmbH
Жанр: Зарубежная публицистика
isbn: 9783347020290
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Die Entwicklung geistiger Stärke
In einem Vorstellungsgespräch oder, wenn wir vor vielen Menschen sprechen oder, wenn wir auf Fremde zugehen sollen, sind wir oft unsicher und schüchtern. All das sind Situationen, in denen sicheres Auftreten – Selbstbewusstsein – gefragt ist. Dazu gehört das Grundgefühl, richtig zu sein, sich selbst nicht in Frage zu stellen und sich mögliche Fehler zu gestatten. Am deutlichsten wird das, wenn wir einen anderen Menschen begehren. Viele Männer und Frauen scheuen davor zurück, jemanden anzusprechen, der ihnen gefällt. Dabei könnte dies ein schönes Spiel sein. Warum sollte man nicht häufiger Wildfremde, die einen interessieren, ansprechen – nur um herauszufinden, ob sie das Gefühl, das man hatte, bestätigen? Es gibt kaum etwas, das vordergründig dagegenspricht, und trotzdem ist es in der westlichen Gesellschaft immer noch unüblich und eher den notorischen Schwerenötern vorbehalten. Wir verhalten uns meist so, als müssten wir unter allen Umständen jegliche Niederlage in dieser Hinsicht vermeiden, weil sie eine nicht wiedergutzumachende Demütigung darstelle. Und so fühlt es sich für viele auch an: Selbst wenn man von anderen für die Niederlage nicht gehänselt wird, ist sie schwer zu ertragen und hängt einem oft lange nach.
Warum ist das so? Zunächst sollten, von außen betrachtet, unsere Neugier und Experimentierfreude der Versagensangst gegenüberstehen, und die Frage, warum wir uns häufig gegen eine Kontaktaufnahme entscheiden, ist berechtigt. Die Erklärung könnte sein, dass unsere Angst vor der Niederlage viel größer ist als der in Aussicht stehende Gewinn. Was gibt uns das Gefühl, dass eine solche Niederlage so groß und unerträglich sei? Bei diesen Situationen stehen wir als Person im Mittelpunkt und können uns nicht hinter einem Auftrag, einer anderen Person, einem Sachzwang oder ähnlichem verstecken.172 Am deutlichsten wird es immer dann, wenn wir einen anderen Menschen begehren. Das können wir nur selbst tun, und es gelingt auch nur, wenn wir für uns selbst sprechen. Verstecken wir unser Begehren hinter einem belanglosen Vorwand zur Kontaktaufnahme, so wandert das Gespräch auf die Sachebene, und der Zauber ist verflogen. Ich habe es erlebt, dass eine Frau erst neugierig auf mich war, als ich sie ansprach, und dass ihr Interesse verlorenging, als mir kein persönliches Gesprächsthema mehr einfiel und ich über etwas Belangloses wie das Wetter sprach.
Auffällig finde ich, dass viele aus Krisenregionen kommende Afrikaner mit solchen Situationen viel sorgloser umgehen, obwohl sie in ihrer Kindheit und Jugend in der Regel viel weniger behütet und häufiger gequält und mit den Schattenseiten der Welt vertraut gemacht wurden. Dies ist ein Indiz dafür, dass es neben den Erfahrungen, die uns im bewussten Teil unserer Kindheit und Jugend zuteilwerden, noch einen weiteren großen Einflussfaktor auf die Stabilität unserer Selbstempfindung geben muss. Anders ist meiner Ansicht nach die tiefe Selbstsicherheit vieler Afrikaner nicht zu erklären, da unsere Kindheit von weniger Beeinträchtigungen und Brutalität geprägt ist als das Aufwachsen in Hunger- und Krisenregionen. Den oben erwähnten Körperkontakt als Baby dürften die meisten Afrikaner, die in ärmeren Verhältnissen aufwuchsen, eher erhalten haben – meist einfach aus Ermangelung von Kinderwagen und der Möglichkeit, das Baby in ein Bettchen im Nebenzimmer zu legen. Bei uns tragen die wenigsten Mütter ihre Babys den ganzen Tag am Körper, obwohl dies der Urzustand ist, in dem wir aufwachsen sollten. Vor Beginn der Zivilisation war das Getragenwerden für Babys die Regel. Erst unsere Kultur änderte dies.173
In Europa gehen wir aber meist noch weiter. Während in ursprünglichen Regionen Kinder oft sehr lange gestillt werden, müssen europäische Babys häufig schon mit sechs oder zwölf Monaten mit der Flasche auskommen. In industrialisierten Ländern steht künstliche Babynahrung zur Verfügung, und Eltern setzen andere Prioritäten. Mütter haben in größerem Maß als früher das Bedürfnis, wieder ins Berufsleben zurückzukehren, und sind weniger bereit, für ihr Kind Abstriche zu machen. Der brillante Psychoanalytiker Daniel Stern stellt fest: Während der längsten Zeit der Menschheitsgeschichte seien Säuglinge sehr häufig auf das kleinste Signal hin gestillt worden – bis zu zwei Mal pro Stunde. Die Mutter habe den Säugling zumeist am Körper mit sich herumgetragen, weshalb häufiges Stillen möglich war. Heutzutage lassen wir den Hunger der Babys lange anwachsen, was mit hoher Stimulierung verbunden sei, ebenso wie bei der darauffolgenden Sättigung. Stern bezeichnet die heutige Säuglingsernährung als Drama.174
In Deutschland wurden im Jahr 2005 etwa achtzig Prozent aller Babys zumindest zeitweilig über sechs bis acht Monate gestillt, aber nur ein kleiner Teil länger als ein Jahr.175 In vorzivilisatorischer Zeit war es nicht ungewöhnlich, dass Kinder über mehrere Jahre gestillt wurden. Somit erleben auch heute noch viele Babys eine der selbstverständlichsten Erfahrungen von Glück und Geborgenheit nicht oder in unnatürlich geringem Umfang. Auffällig ist, dass unter den Ländern, in denen weniger als neunzig Prozent aller Kinder überhaupt gestillt werden, nur Länder der westlichen Welt sind und keine aus ärmeren, südlichen Regionen.
Fazit: Liebe, Körperkontakt und emotionale Geborgenheit in der frühesten Kindheit sowie Bewahrung der Integrität, Förderung und Angenommen-Sein in der späteren (bewussten) Kindheit und Jugend haben großen Einfluss auf das spätere Selbstbewusstsein eines Menschen.
Manch einer wird dem entgegnen, Getragenwerden sei weniger bedeutend für das optimale Aufwachsen des Kindes als ausreichende Nahrung und Schutz. Doch die Natur tut wenig Unnützes; alle Triebe und Gewohnheiten leisten ihren Beitrag zur Arterhaltung. Getragenwerden gibt dem Baby ein beständiges Gefühl von Sicherheit, das es zu übernehmen und zu verinnerlichen lernt, während das Liegen im Kinderwagen eine beständige Erfahrung von Alleinsein bedeutet. Praktisch ist diese Situation ähnlich der von Gefängnisinsassen: Sie wissen auch die Menschen und die Gesellschaft in ihrer Nähe, können sie aber genauso wenig aus eigener Kraft erreichen wie ein Baby, das im Kinderwagen liegt. Damit lernt das Baby beständig, dass es in seinem Wunsch nach Nähe der Gnade seiner Umwelt ausgeliefert ist und dass es selten genug Liebe erhält und dass das Aushalten und Ertragen von Leid ein wichtiger Anteil des Lebens ist.
Das durch solches Aufwachsen entstandene Lebensgefühl vieler Menschen macht sich unser Wirtschaftssystem zunutze. Viele Menschen nehmen ungünstige Arbeitsbedingungen bereitwillig hin, weil sie sie aus ihrem Lebensgefühl heraus für unabwendbar halten: längere Arbeitszeiten, niedrigere Löhne, mehr Flexibilität der Mitarbeiter und vieles mehr.
Bis wir unsere grausamen Kindheiten in gesellschaftlicher Breite verdaut haben, werden noch Jahrzehnte vergehen. Heutige Kinder wachsen zwar meist mit mehr Geborgenheit, mehr Liebe, weniger Schlägen und weniger Quälerei auf als die Kinder der vorherigen Generationen, aber erstens ist das Ziel noch nicht erreicht und zweitens fand der Übergang lautlos statt. Genauso lautlos wie die Gesetzesänderung, die seit dem Jahr 2000 Eltern das Schlagen ihrer Kinder verbietet. Eine öffentliche Diskussion über die frühere Prügelstrafe und die psychischen Folgen, die sie bei vielen Betroffenen hinterließ, steht noch aus. Da Gewalt in der „Erziehung“ ein sehr verbreiteter Missstand in den Familien war, ist eine öffentliche Diskussion darüber besonders wichtig und eine weitere Verdrängung des Themas hätte schwerwiegende Folgen für die Gesellschaft.
2.5 Aggressivität und Liebesfähigkeit
In seinem Buch Das sogenannte Böse erläutert Konrad Lorenz den Ursprung der Aggressivität aller Lebewesen, wozu sie dient und welche Folgen sie hat – auch in Bezug auf die menschliche Gesellschaft. Er führt aus, dass der Aggressionstrieb nicht pathologisch ist und seine Ursache nicht in einem Kulturverfall zu suchen ist. Die Frage, wieso Aggression bei Tierarten, die eng zusammenleben, nicht einfach abgebaut wurde, beantwortet er damit, dass ihre Funktionen eben nicht entbehrt werden können.176 Dies gilt in Bezug auf den Menschen mindestens für СКАЧАТЬ