Название: Ende offen
Автор: Peter Strauß
Издательство: Readbox publishing GmbH
Жанр: Зарубежная публицистика
isbn: 9783347020290
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Die Evolution hat uns nicht so gestaltet, dass wir möglichst viel tun wollen, sondern dass wir das, was nötig ist, möglichst effizient tun wollen. Das Streben nach Nichtstun ist in uns angelegt, um uns ein Gegengewicht zu den Zwängen der Nahrungssuche zu geben, damit wir uns darum bemühen, dies möglichst effizient zu tun und es nicht zum Selbstzweck werden zu lassen. Zeiten der Erholung und des Nachdenkens sind wichtig für uns, und dafür wurde uns ein Streben nach Müßiggang eingepflanzt. Daher denke ich, dass wir für andauernden Stress nicht vorbereitet sind und die Wahrscheinlichkeit hoch ist, dass wir darunter leiden und krank werden. Wozu hätte die Evolution uns auf Dauerstress vorbereiten sollen, wenn dieser normalerweise nicht vorkommt? Grundsätzlich ist der Mensch nicht für das ständige zielgerichtete Arbeiten und für die ständige Lösung großer Probleme geschaffen worden.
Viele Menschen arbeiten in ihren Berufen so, als sei dauernd Ausnahmezustand – manche freiwillig, manche gezwungenermaßen. Dieser immerwährende Notstand entsteht auch, weil der Wettbewerb von uns verlangt, dass wir unsere Arbeitsprozesse kontinuierlich straffen, damit Effizienz und Rendite ansteigen. Wer weniger oder langsamer arbeitet, gehört zu den Verlierern. Derzeit ist diese hohe Schlagzahl vielleicht von einem Teil der Menschen gewünscht, weil sie uns Vorteile wie den technischen Fortschritt bringt. Ich denke, die Mehrheit wünscht sich etwas anderes oder hat sich noch nie Gedanken darüber gemacht, ob auch ein Leben ohne diese dauerhafte Überanstrengung möglich sei. Der Wettbewerb in der Berufswelt führt leider dazu, dass derjenige die Latte für alle anderen höher legt, der bei den gefragten Eigenschaften am leistungsfähigsten ist. Dass alle über einen Kamm geschoren werden, wird der oben beschriebenen Unterschiedlichkeit nicht gerecht, lässt viele von uns im Berufsleben übermäßig verschleißen und verschwendet Potentiale, die unter anderen Bedingungen besser genutzt werden könnten. Unsere Arbeitswelt müsste nicht so sein, und wir könnten eine andere Lebensweise wählen, wenn wir das wollten, denn für die westliche Welt gilt, dass wir wesentlich mehr produzieren, als wir benötigen. Was wir wirklich zum Leben bräuchten, wenn wir uns auf Nahrungsbeschaffung und den Komfort des Mittelalters beschränken würden, könnten wir heutzutage in wenigen Minuten pro Tag erwirtschaften, und es wäre genug für die gesamte Menschheit da. Ein großer Teil unserer Anstrengung dient der Schaffung von Wohlstand und Fortschritt, der Befriedigung von Wünschen, dem Machtstreben, dem Geltungsdrang oder dem Besitzstreben.
Tiere zeigen ein solch unnatürlich hohes Maß an Anstrengung nur in Ausnahmesituationen, wir zeigen es ununterbrochen. Die große Zahl an Zielen, nach denen wir streben, von denen die meisten unnötig sind oder Zirkelschlüsse – „Ich arbeite mehr, damit ich mehr verdiene, damit ich mich von der Arbeit erholen kann oder mir etwas leisten kann, das mir das Leben erleichtert.“ – zeigen, dass wir nicht im inneren Gleichgewicht sind und auch gefühlsmäßig in einer ständigen Notsituation leben. Wenn die Natur von uns diese hohe Ausnutzung der Zeit gewünscht hätte, dann würden auch viele andere Tiere sich so verhalten, und auch wir hätten schon immer so gehandelt, weil es ja für die Arterhaltung sinnvoll wäre.
Ähnliches gilt für unsere Flexibilität, die in der heutigen Zeit stark beansprucht wird. Neolithische Menschen mussten sich nicht in kurzen Abständen immer wieder auf Neues einstellen. Ihr Leben lief über lange Zeiträume in bekannten Bahnen. Heute müssen sich viele Berufstätige vor allem aufgrund der technologischen Entwicklung, aber auch wegen eines Wechsels ihres Arbeitsplatzes oder Aufgabengebiets ständig an neue Bedingungen, Gruppen und Lebensräume anpassen. Dieses hohe Maß an geforderter Flexibilität laugt uns aus, weil uns die Evolution nicht dafür geschaffen hat. Im Leben früherer Generationen vor der Zivilisation gab es auch Phasen der Anpassung, aber meist nicht über mehrere Generationen hinweg, sondern zeitlich eng begrenzt und vor allem viel seltener.
Sexualität und außerehelicher Geschlechtsverkehr
Auch bei der Sexualität bringen wir aus unserer Geschichte Eigenschaften mit, deren Auswirkungen wir bei der Ausgestaltung unserer Gesellschaft nicht berücksichtigt haben. Die Lust ist unter den Menschen sehr ungleich verteilt – es gibt Monogame und Polygame, manche wünschen sich Sex mit vielen verschiedenen Menschen, andere wünschen sich mehrere Beziehungen, und ich schätze, ungefähr die Hälfte aller Menschen ist tatsächlich lebenslang monogam. Jedenfalls ist der Wunsch nach Sex und nach Häufigkeit, Dauer und Intensität ungleich verteilt. Es ist statistisch belegt, dass zwischen fünf und dreißig Prozent der Babys in den USA und Großbritannien Kuckuckskinder sind.69 Fremdgehen gehört zur Menschheit, selbst wenn dauerhafte Treue für die Mehrheit kein Problem darstellt.
Dass man sich zwischen Freiheit und Geborgenheit entscheiden muss, dass der, der viele wechselnde Bekanntschaften hat, weniger Geborgenheit bekommt, und dass der, der eine feste Beziehung hat, einen Teil seiner Freiheit einbüßt, ist vielen klar. Manche bemerken, dass sie auch in einer Beziehung den Wunsch nach Sex mit anderen haben, und ganz wenige gestehen sich das zu. Wieder andere haben diesen Wunsch gar nicht. Dass es nicht einen richtigen Weg gibt, dass die Vielfalt auch in der Sexualität ein Prinzip der Arterhaltung der Menschheit ist und dass unterschiedliche Menschen im Sinne der Evolution in Bezug auf die Sexualität unterschiedliche Rollen in der menschlichen Gesellschaft haben, ist meines Erachtens den wenigsten von unbewusst.
Aus Sicht der Spieltheorie gibt es zwei Prinzipien: Die Frau möchte sich mit dem Besten paaren, also sollte sie bei Gelegenheit mit einem attraktiveren fremdgehen, wenn sie sich der Unterstützung ihres Partners sicher sein kann. Der Mann möchte, dass seine Gene weitergegeben werden. Daher sollte der Mann sich mit weiteren Frauen paaren, und damit seine Chancen erhöhen, seine Gene weiterzugeben. Fremdgehen ist ein natürliches Programm zur Effizienzsteigerung.
Es erscheint mir, dass es für das Überleben einer steinzeitlichen Gruppe wichtig war, dass manche viel Lust auf andere hatten und die Gene sich durchmischten. Promiskuität führt dazu, dass der Genpool aufgefrischt wird. Dies kann gerade vor der neolithischen Revolution wichtig gewesen sein, denn die damaligen Clans hatten untereinander wenig Kontakt und konkurrierten um ihre Reviere, sodass die Gefahr bestand, dass die genetische Vielfalt innerhalb einer Gruppe für die Arterhaltung zu gering war. Es war ebenso wichtig, dass es feste Beziehungen gab, die Ruhe und Konstanz in die Gruppe brachten, denn zu viel Promiskuität kann dazu führen, dass der Zusammenhalt der Gruppe zu gering wird und sie zerfällt. Daher ist Monogamie ebenso wichtig. Sich für das eine oder das andere zu entscheiden oder jedem gleich viel von beiden Eigenschaften mitzugeben, ist für Menschen offenbar schlechter, als die beiden Eigenschaften ungleich auf die Menschen zu verteilen – so werden beide Funktionen erfüllt. So entwickelten sich verschiedene Charaktere, von denen weder der eine noch der andere „besser“ ist, sondern die gleichermaßen wichtig für die Arterhaltung sind.
Jean Ziegler schreibt: „Bevor der Mensch liebt, liebt er das Land, auf dem er lebt. Der Mensch im Paläolithikum definierte […] höchstwahrscheinlich ein bestimmtes Territorium als sein eigenes, stellte sich die Welt als Funktion des Territoriums vor, sprach ihm feste Grenzen zu, verteidigte sie mit seinem Leben, verließ seine Frau und sein Kind und kehrte auf sein Territorium zurück, sobald er auf dem Nachbarterritorium den Zeugungsakt vollzogen und sich seiner Wirksamkeit (der Geburt eines Kindes) überzeugt hatte.“70 Ähnliches findet sich auch bei СКАЧАТЬ