Название: Die esoterische Botschaft der Märchen
Автор: Manfred Ehmer
Издательство: Readbox publishing GmbH
Жанр: Религия: прочее
Серия: Edition Theophanie
isbn: 9783748281856
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Das Einhorn steht als ein Sinnbild für einsames Umherschweifen. Aber diese Einsamkeit bedeutet nicht etwa Isolierung, Verlassenheit, sondern viel eher Freiheit, Unabhängigkeit, Souveränität, die alles überschauende Einsamkeit des Adlers, der sich hoch in die Lüfte schwingt, die Einsamkeit wahrer Verbundenheit mit der Natur. Eine solche, zutiefst schöpferische Einsamkeit hat in Indien auch ein so großer Erleuchteter wie Buddha für sich in Anspruch genommen, der sich in einer von dem schwedischen Tierschriftsteller Bengt Berg übersetzten „Buddha-Hymne“ selbst mit dem Einhorn vergleicht, wie es in der immer wiederkehren Schlusszeile deutlich ausgedrückt wird:
Einem Löwen gleich, ohne Furcht vor Geschrei,
Einem Winde gleich, nie in Netzen gefangen,
Einer Lotosblume gleich, nie vom Wasser besprengt,
Lass' mich einsam wie ein Einhorn wandern.13
Das alttestamentliche BUCH HIOB nimmt ebenfalls auf die Freiheit und Unbezähmbarkeit des Einhorns Bezug: „Meinst du, das Einhorn werde dir dienen und bleiben an deiner Krippe? Kannst du ihm dein Joch aufknüpfen, die Furchen zumachen, dass es hinter dir brache in Gründen? Magst du dich darauf verlassen, dass es so stark ist? Und wirst du es dir lassen arbeiten? Magst du ihm trauen, dass es deinen Samen dir wiederbringe und in deine Scheune sammle?“ (Hiob 39/9). Es sind alles rhetorische Fragen: das Einhorn ist frei, wild, unzähmbar, darin liegt der Sinn der hier zitierten Sätze.
Talmudische Texte berichten von wilden Kämpfen des Einhorns mit dem Löwen, und so wurde das Einhorn im Judentum zu einem Symbol für göttliche Macht und unbesiegbare Kraft, die Gott besonders seinem „auserwählten Volk“ zeigte: „Gott hat sie aus Ägypten geführt, seine Freudigkeit ist wie eines Einhorns.“ (4. Mose 23/22). „Seine Herrlichkeit ist wie eines erstgeborenen Stiers, und seine Hörner sind wie Einhornhörner; mit denselben wird er stoßen die Völker zu Haufen, bis an des Landes Enden.“ (5. Mose 33/17) Und interessanterweise wird in der jüdisch-christlichen und mittelalterlichen Tradition die Stärke des Einhorns, dieses wunderbaren Zauberwesens, zunehmend als etwas Unheimliches, Bedrohliches empfunden, sodass zuletzt ein Martin Luther aufstöhnen konnte: „Hilf mir aus dem Rachen des Löwen und errette mich von den Einhörnern!“ (Psalm 22/20-22)
Aber trotz seiner unbändigen, zuweilen furchteinflößenden Kraft bleibt das Einhorn doch ein überirdisches himmlisches Wesen, Wohngenosse und Gefährte von Adam und Eva im Paradies, wie die Legende zu berichten weiß: „Gott forderte Adam auf, die Tiere zu benennen. (….) Das erste Tier, dem er einen Namen gab, war das Einhorn. Als Gott den Namen hörte, kam er hernieder und berührte die Spitze des einzigen Hornes, das diesem Tier auf der Stirne wuchs. Von da an war das Einhorn erhöht über die anderen Tiere. Adam und Eva konnten auf seinem Rücken reiten. Alle Tiere und das Menschenpaar lebten in Frieden miteinander, bis zu dem Tage, als Adam und Eva von der verbotenen Frucht aßen. Sie probierten die Früchte der Erkenntnis, fingen an, sich zu schämen und mit dem Laub der Blätter zu bekleiden. Gott war erzürnt über ihre Tat und vertrieb sie aus dem Garten Eden. Zwei Cherubim mit flammenden Schwertern bewachten fortan den Eingang. Gott gab dem Einhorn die Wahl, im Paradiese zu bleiben oder Adam und Eva zu begleiten. In die Welt hinaus zu begleiten, dorthin, wo Pest und Kriege herrschen, die Kinder unter Schmerzen geboren werden und alles Leben sterblich ist. Das Einhorn folgte Adam und Eva. Für sein Mitleid wurde das Einhorn mit besonderen Gaben gesegnet. Wählte es doch aus Liebe den schweren Weg der Menschen und blieb nicht an jenem Ort der Schönheit und Freude.“14
Esoterisch gesehen symbolisiert das Einhorn unser höheres Selbst, die Monade, denn auch dieses Geistselbst entstammt dem „Paradies“, der göttlichen Lichtwelt. Nur aus Mitleid hat es sich zum Herabstieg in die niedere Materiewelt entschlossen. Dies war ein echtes Opfer, eine Tat der Selbstaufopferung, und daher wurde schon im Mittelalter das Einhorn mit Christus gleichgesetzt. Auch Christus ging freiwillig in die Materie hinein. Das Einhorn steht esoterisch als ein Symbol für den inneren göttlichen Funken, für den Wesensanteil des Menschen, der sich trotz irdischer Verkörperung himmlisch, überirdisch, spirituell rein erhalten hat und sich nicht durch Materielles korrumpieren lässt. Der Innere Funke, die Monade, das höhere Selbst – wie immer wir es nennen wollen – folgt dem Menschen stets als unsichtbarer Lebensbegleiter auf dem Weg durch die irdische Materie, geradeso wie in der Legende das Einhorn einst das Paradies verließ, um Adam und Eva zu folgen.
In Peter S. Beagles Märchenroman steht der Satz: „Einhörner sind unsterblich“15. In seiner Unschuld weiß das Einhorn nichts von der Tragik des Sterbenmüssens, von Schuld und Verstrickung; es erfreut sich des ewigen Lebens und einer paradiesischen Zeitlosigkeit, wie sie dem ursprünglichen Schöpfungsplan entspricht. Obgleich es Adam und Eva in die Welt folgte, blieb das Einhorn immer ein Paradieswesen; mit ihm kam ein Stück Himmel auf die Erde herab, und so kündet es wie ein Lichtbote von einer höheren Welt. Daher auch die sprichwörtliche Scheue des Einhorns: es hat sich den Gesetzen dieser Welt nie angepasst, und es entzieht sich dem Zugriff des Irdischen, Welthaften, Materiellen, weil es einer anderen Welt entstammt. Nur mit den „Augen des Geistes“ kann das Einhorn geschaut werden; es ist Gegenstand einer Vision, aber kein wissenschaftliches Studienobjekt. Scheu und zurückgezogen lebt es in seinem hortus conclusus, dem „geschlossenen Garten“, einem Zaubergarten, in dem nicht mehr die Gesetze der Welt, sondern spirituelle Gesetze gelten. Kein Zweifel, dieser mystische Einhorngarten befindet sich nicht in der äußeren Raumzeitwelt, sondern im Innersten unserer Seele.
Wenn man in Indien Buddha, im Westen Christus mit dem Einhorn gleichgesetzt hat, so kann es ja nur ein Symbol des höheren Selbst – der Monade – sein. Auch die Monade, ihrem Wesen nach scheu und zurückgezogen, entzieht sich jeder Kategorisierung, Einordnung, Vereinnahmung. Anstatt sich dem eisenharten Zugriff dieser Welt zu beugen, will sie lieber – wie das Einhorn – frei, wild und ungezähmt bleiben, will im Umherschweifen ihre Souveränität erfahren. Niemand wird das Einhorn einfangen, zähmen, bändigen können, niemand ihm Fesseln anlegen, denn der Geist bleibt frei und lässt sich nicht von der Materie an die Kette legen. So bedeutet das Einhorn im Grunde etwas rein Geistiges. Es ist der stets frei umherschweifende Geistesfunke, der seine Göttlichkeit in sich trägt und seines Ursprunges in der höheren geistigen Welt immer eingedenk bleibt. Im Einhorn als Sinnbild verkörpert sich das Höchste, Reinste, Spirituellste, das sich denken lässt, der Innere Funke Gottes.
Die spirituelle Natur des Einhorns zeigt sich auch in seiner Androgynität und in seinem Bezug zur Jungfräulichkeit. Das Androgyne kommt beim Einhorn schon im äußerlichen Anblick zum Ausdruck: die üppige, wallende Haarmähne und die runden weichen Formen bekräftigen das Weibliche, das spitze Horn und die ungestüme Kraft eher das Männliche. So zeigen sich Männliches und Weibliches vollkommen integriert, ohne dass das eine sich auf Kosten des anderen verwirklicht. Androgynen Charakter besitzt aber auch das höhere göttliche Selbst. Und wir wissen aus den Traditionen der Esoterik, dass die ursprüngliche Menschheit, als sie noch auf den höheren geistigen Ebenen weilte, zweigeschlechtlich war. Erst im Laufe einer späteren Evolutionsperiode, im Zuge stärkerer physischer Verstofflichung, trat die Geschlechtertrennung ein. Und in einem künftigen vergeistigten Zustand wird die Menschheit ihre ursprüngliche Androgynität wiederhergestellt haben.
Eine christliche Legende erzählt, wie das Einhorn, das von niemandem gefangen genommen werden kann, zutraulich seinen Kopf in den Schoß einer keuschen Jungfrau legt. In einer aus Syrien stammenden Version der Geschichte, die mehr das Erotische daran betont, lesen wir: „Es gibt ein Tier mit dem Namen 'dajja'. Das ist so sanft wie es auch stark ist, und kein Jäger vermag es zu fangen. Mitten auf der Stirn trägt es ein einzelnes Horn. Nur mit List kann man seiner habhaft werden. Dorthin, wo es des öfteren gesehen wird, führt man eine reine und keusche Jungfrau. Sobald СКАЧАТЬ