Название: Zwischen Bolschewismus und Bergpredigt
Автор: Norbert Ortgies
Издательство: Readbox publishing GmbH
Жанр: Зарубежная публицистика
isbn: 9783347106666
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Vielleicht kannte er damals schon Friedrich Fütterer, einen kommunistisch eingestellten Medizinstudenten der WWU Münster. Der Sohn eines Fabrikdirektors49 wollte just im Sommersemester 1929 sein Studium in Berlin fortsetzen.50
Eigentlich sollte man meinen, dass Bitter ähnliche Pläne verfolgte. Nach gerade einmal drei Tagen in Berlin aber schrieb er sich er an der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster ein, wo er Veranstaltungen in Germanistik, Philosophie, Geschichte, Politik und Publizistik belegte.51
Berlin war für ihn ein Schock. Offensichtlich verkraftete er die übergangslose Umstellung auf das Weltstadtgetriebe nicht. Völlig niedergeschlagen notierte er auf seiner Münsteraner „Bude“: „An Selbstmord dachte ich.“52 Zwar beruhigte er sich etwas, doch quälte ihn weiterhin eine allgemeine Unzufriedenheit und Unruhe. Studienziel war nun wohl der Doktortitel in Publizistik (Zeitungswissenschaft).53
Doch kaum kam das Ende des ersten Semesters in Sicht, schrieb Bitter seinen Eltern einen Brandbrief des Inhalts, er könne „unmöglich weiterstudieren“.54
Wohlweislich bat er Vater und Mutter schon in seinem Einleitungssatz, sich nicht zu erschrecken und aufzuregen. Sicher nur ein frommer Wunsch. Aus Elternsicht wiederholte sich das Drama von 1926. Ihr durchaus talentierter Spross verweigerte zum zweiten Mal die Mitarbeit an einer aussichtsreichen beruflichen Zukunftsplanung. Dieses Mal waren seine Argumente für den Studienabbruch zahlreicher und zielgerichteter als drei Jahre zuvor auf die Empfänger zugeschnitten. „Ich gehe täglich 3 Stunden zur Universität, schreibe mit und kann doch gar nichts gebrauchen. Und dabei hab ich nicht die geringste Lust, vielmehr einen Widerwillen dagegen. Und dafür sollt ihr das schwere Geld ausgeben?“
Bitter wurde aber auch grundsätzlicher: „Die Jahre auf dem Gymnasium haben mir ungeheuer genutzt. Sie haben mir ja gerade zum Bewußtsein gebracht, wie ungerecht es in der Welt zugeht. Millionen und Abermillionen schuften für ein paar Pfg. [Pfennige] – und müssen auch eine Familie unterhalten. […] Bei jedem Bissen, den ich verzehrte, mußte ich an sie denken. Wenn ihr einen nur verstehen könntet. Wir sind und müssen ganz andere Menschen sein.“ Und: „Ich habe ja nie die Absicht gehabt etwas zu werden und Geld zu verdienen. Ist es denn eine Schande, ein einfacher Arbeiter zu sein?“ Er erinnerte seine Eltern daran, dass sie ihn doch nur das Abitur hätten machen lassen, weil sie immer noch auf seine Hinwendung zum Priesterberuf hofften. Aber diese Hoffnung müsse er wohl ein für allemal enttäuschen. Als Geistlicher wäre er bestimmt ein Missionar geworden, der auch nur wenig verdiene und seine Eltern aus der Ferne kaum unterstützen könne. Er wolle nun selber seinen Mann stehen, als „Missionar unter den Arbeitern“.55
Wie er seine Argumentation auch drehte und wendete, seine Eltern gaben nicht nach. Bitter beugte sich ihnen schließlich und setzte sein Studium fort. Doch gründete er nur Tage später im Juli 1929 mit anderen Kommilitonen den „Freien Sozialistischen Studentenbund“ [FSSB] an der Universität Münster. Diese neugegründete studentische Hochschulgruppe56 umfasste bei ihrer Gründung sieben Mitglieder. In den folgenden Semestern pendelte ihre Mitgliederzahl um ein Dutzend. Dem dreiköpfigen Gründungsvorstand gehörte Ludwig Bitter als Kassierer an. Als Schriftführer fungierte Rudolf Dannenbaum. Vorsitzender war Dr. Heinrich Bernds.57 Dieser schon etwas ältere – achtundzwanzigjährige - Doktor der Politischen Wissenschaften hatte in Münster ein Zweitstudium in Evangelischer Theologie aufgenommen.
Dr. Heinrich Bernds, erster Vorsitzender des Freien Sozialistischen Studentenbundes Münster, o. J.
Quelle: Martin Bernds, Lübeck
Unter der Nazi-Herrschaft stach Pastor Dr. Bernds dem Regime als entschiedener Gegner ins Auge. Bald nach Beginn des Zweiten Weltkriegs verurteilte ihn ein Sondergericht in Hannover wegen Verstoßes gegen das „Heimtückegesetz“ der Nazis zu 18 Monaten Zuchthaus. Nach seiner Haftentlassung im Mai 1942 galt für ihn ein nahezu lückenlos durchgesetztes faktisches Berufsverbot.58
Auffällig ist, dass zwei der sieben Gründungsmitglieder, die Münsteraner Fritz Niemeyer und Helmut Schütz, vorher dem 1927 neugegründeten „Republikanischen Studentenbund“ (RSB) angehört hatten. Der RSB verfocht als parteiungebundene Vereinigung die demokratischen Ideen und Prinzipien der Weimarer Verfassung.59 Helmut Schütz beendete diese Doppelmitgliedschaft schon im Wintersemester 1929/30, nachdem er den Vorsitz im „Freien Sozialistischen Studentenbund“ übernommen hatte. Fritz Niemeyer jun. hingegen, Sohn des gleichnamigen Münsteraner Gewerkschaftssekretärs und SPD-Stadtverordneten, gehörte beiden Studentenbünden beinahe ununterbrochen an - bis zu deren erzwungener Auflösung im Jahre 1933.60
„Freier Sozialistischer Studentenbund“. Entwurf eines Anschlagbretts [1929]
Quelle: Universitätsarchiv Münster, Bestand 004, Nr. 773, Bl. 4
In den nächsten Jahren gab es öfter Doppelmitgliedschaften. Grundsätzlich schlossen die Satzungen beider Verbände diese nicht aus, zumindest wenn es sich um demokratische Sozialisten handelte.
Anfangs trafen sich die freien Sozialisten in der Gaststätte „Zum Felsen“, bald im „Zum Pulverturm“, dann wieder im „Zum Felsen“, später in der Jüdefelder Straße bei Schmiess („Deutsches Keglerheim“).61
Nur ein einziges Mal fand eine Studentin, die Bochumerin Brunhilde Heinemann im Wintersemester 1930/31, den Weg in den sozialistischen Studentenbund. Immerhin komplettierte sie dort den dreiköpfigen Vorstand.62
Wie weit links der FSSB in den Jahren 1929-1933 stand und was er sich unter Sozialismus konkret vorstellte, lässt sich kaum präzisieren. Er war weder eine Studentenorganisation der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) noch der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) oder etwa einer kleineren Partei wie der linkssozialistischen SAP(D) (Sozialistische Arbeiterpartei [Deutschlands]). In seinen Statuten findet sich als Hauptziel sehr allgemein formuliert die „Pflege sozialistischer Weltanschauung und ihre wissenschaftliche Vertiefung“.63
Am ehesten könnte man den Bund als Vereinigung diskussionsfreudiger Linkssozialisten apostrophieren, von denen allerdings der eine oder die andere gleichzeitig Mitglied der dogmatischen KPD war oder mit ihr sympathisierte.64
Nach rückblickender Darstellung von Rudolf Quast, einem Mitglied des Bundes in den Jahren 1932/193365, bestand die Gruppe aus einer bunten Mischung von Anhängern verschiedener sozialistisch-kommunistischer Tendenzen.66 1933 drückte sich ein Mitglied ähnlich aus: „Dieser Bund war eine Gemeinschaft sozialistisch eingestellter Studenten aller Schattierungen, von denen die meisten keiner Partei angehörten.“67
Die Reichweite des linken Studentenbundes dürfte im akademischen Milieu Münsters nicht allzu groß gewesen sein. Viele Studenten und Studentinnen standen der Politik fern, zumindest der Hochschulpolitik. Andere organisierten sich in – im Sonderfall Münster zumeist katholischen – Studentenverbindungen. „An keiner anderen deutschen Universität gab es ein derartiges Übergewicht der katholischen Verbindungen – der Korporationsgrad der münsterischen Hochschüler überstieg jedoch insgesamt nie 40 % und blieb damit unter dem Reichsdurchschnitt von 60%.“68 Unter den politischen Studierendenverbänden, ob mit oder ohne Parteianschluss, dominierten bis ungefähr 1930 stark rechtsgerichtete, antidemokratische Gruppen aus dem Bannkreis der sogenannten Konservativen Revolution. Auch standen wesentliche Teile der katholischen Studentenschaft nicht mehr hinter der Zentrumspartei, sondern folgten ebenfalls СКАЧАТЬ