Название: Boat People
Автор: Sharon Bala
Издательство: Автор
Жанр: Контркультура
isbn: 9783963114441
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Mahindans Augen hatten sich dem Dunkel angepasst und konnten nun Umrisse und Formen erkennen. Das klapprige Geländer beiderseits der Leiter. Lampen, aufgereiht an einem Elektrokabel. Außerhalb des Bullauges war es noch stockdunkel.
Behutsam, um Sellian nicht zu wecken, stand er auf. Vorsichtig stieg er über die auf dünnen Matten zusammengedrängten Körper, duckte sich unter den in schwankenden Hängematten reglos Schlafenden, tastete sich von einer Seite des Schiffs zur anderen bis hin zur Leiter. Es war heiß und drückend, die Luft zum Ersticken.
Hemas Zopf lag lang und dick auf dem schmutzigen Boden. Mahindan bückte sich, hob ihn auf und legte ihn im Vorübergehen sanft auf ihren Rücken. Ihre beiden Töchter schliefen neben ihr auf derselben Matte. Sie lagen einander zugewandt auf der Seite, Kopf an Kopf, Knie an Knie. Ein paar Meter weiter kam er zu dem Mann mit dem amputierten Bein und wandte die Augen ab.
Bei Tag ging es laut her auf dem Schiff, aber jetzt hörte er nur, wie das Elektrokabel gegen die Wand schlug, wie sie alle atmeten, ein und aus, und immer dieselbe verbrauchte, dieselverpestete Luft.
Ein Junge schrie im Schlaf auf, und als Mahindan sich umschaute, sah er, dass Kumurans Frau ihr alptraumgeplagtes Kind beruhigte. Mahindan hielt sich mit beiden Händen am Geländer fest und stieg die Leiter nach oben aufs Deck. Dort angekommen, sog er das frische Aroma von Salz und Meer tief ein und fühlte sich unversehens leichter. Hoch über ihm knarrte der Mast. Mahindan blickte auf zu den Sternen und dem Appam-Halbmond, der warm am Himmel glühte. Beim Gedanken an Appam – leckeren Teig, frisch gebacken, direkt vom Feuer – meldete sich sein Magen mit hohl knurrender Anklage.
Es war dunkel, aber er kannte sich aus auf dem Schiff. Am Heck stand in ordentlicher Reihe ein Dutzend Plastikeimer. Er kauerte sich vor einem dieser Eimer hin und schöpfte mit beiden Händen das lauwarme, von Zweigen und Seetangbrocken verschmutzte Wasser, um sich Gesicht und Nacken zu erfrischen. Dabei spürte er, wie der Dreck auf seiner Haut kratzte.
Das Schiff – ein sechzig Meter langer, alter und schludrig für fünfhundert Passagiere umgebauter Frachter – schepperte durch das ruhige Wasser und stöhnte unter der Last von allzu schwerer menschlicher Fracht. Mahindan hielt sich an der Reling fest und strich mit einem Daumen über den abblätternden Rost.
Ein paar Leute waren nach draußen gekommen, schattenhafte Gestalten, die auf beiden Ebenen des Decks stumme Wacht hielten. Wochen oder auch Monate waren sie schon auf See, Sonnenauf- oder Sonnenuntergang waren kaum noch zu unterscheiden. Die Tage verbrachten sie an Deck unter einer Plane, die sie vor der Sonne schützen sollte, während der Boden unter ihnen brannte. In stürmischen Nächten, wenn das Schiff wild schwankte und schlingerte, flüchtete Sellian sich in Mahindans Schoß, und ihre Mägen kollerten hilflos im Gewühl des wutschäumenden Ozeans.
Aber der Kapitän hatte gesagt, sie seien bald da, und schon seit Tagen hielt ein Mann rund um die Uhr im Ausguck oben auf dem Mast Ausschau nach Land.
Mahindan lehnte sich mit dem Rücken gegen die Reling und ließ sich hinabgleiten, bis er auf dem Deck saß. Kraftlosigkeit, wann immer er an die Zukunft dachte; Horror, wenn die Erinnerungen kamen. Er gähnte und drückte das Kinn gegen die angezogenen Knie, dann schlang er die Arme darum, um sich zu wärmen. Wenigstens waren sie hier auf dem Schiff sicher vor den Angriffen. Ruksala, Prem, Chithras Mutter und Vater. Er dachte an die Toten und schlief ein.
Menschenauflauf und Möwengeschrei rissen ihn aus dem Schlaf. Ein Junge rannte das ganze Schiff entlang und rief nach seinem Vater. Appa! Appa! Mehr Leute waren aufs Deck gekommen, und alle riefen sie laut und aufgeregt durcheinander.
Der Mann, den sie Ranga nannten, stand an der Reling neben ihm und starrte hinaus. Mahindan war entsetzt, ihn neben sich zu sehen.
Das Land ist nah, sagte Ranga.
Mahindan suchte angestrengt die ununterbrochene Linie des Horizonts ab. Nicht weit von ihm stand ein junger Mann auf dem Geländer und beugte sich weit hinaus. Eine ältere Frau rief: Sei vorsichtig!
Nach so langer Zeit sind wir nun endlich angekommen, sagte Ranga. Er grinste Mahindan an und fügte hinzu: Ohne Sie wäre ich nicht hier.
Das hat nichts mit mir zu tun, sagte Mahindan. Jeder nutzt seine Chance.
Mahindan hielt seinen Blick auf den Horizont gerichtet. Zuerst sah er in großer Entfernung einen Nadelkopf, doch als er unverwandt weiter hinsah, trat das ersehnte Bild in Erscheinung: violett-braunes Land und blaue Berge, die geisterhaft im Hintergrund emporragten. Als ein bewaldeter Berghang in Sicht kam, gesellte sich auch der Zeitungsmensch zu ihnen. Mahindan hatte schon mehrere Male ein paar Worte mit ihm gewechselt, aber er konnte sich nicht an seinen Namen erinnern. Jemand hatte gesagt, er habe vor seiner Flucht für eine Zeitung in Colombo gearbeitet.
Wir werden aufgegriffen, sagte der Zeitungsmensch. Amerikaner oder Kanadier, wer schnappt uns zuerst?
Uns schnappen?, gab Ranga mit kreischender Stimme zurück.
Aber jetzt kamen die Leute aufs Deck geströmt und drängelten sich zur Reling, jeder wollte das sehen. Der Zeitungsmensch wurde weggestoßen. Auch Mahindan wich zur Seite, er war froh, von diesem Ranga fortzukommen.
Stimmen und Körper überall. Frauen flochten sich hastig das Haar über einer Schulter. Männer stocherten mit den Armen in ihre T-Shirts. Die meisten waren barfuß. Gedränge von allen Seiten. Das Schiff knackte und Mahindan merkte, wie es sich unter der Last der zusammenströmenden Menschenmasse seitlich neigte. Schulter an Schulter standen sie auf beiden Ebenen des Decks, fielen einander ins Wort, Kinder hielten den Atem an. Was sie da sahen – die Bäume, die Berge, das Stückchen Strand – alles schien unmöglich groß, völlig unwirklich nach all den Tagen und Nächten, in denen es nur Meer und Himmel und das Schiffsgerumpel gegeben hatte. Die Alpträume von verrostetem Stahl waren nun endlich vorbei, wurden in den Ozean ausgespien.
Sellian kam angerannt, quetschte sich zwischen Beinen hindurch, presste eine Faust vors Auge. Appa, du bist mir weggelaufen!
Wie sollte ich weglaufen?, sagte Mahindan. Hast du geglaubt, ich bin ins Meer gesprungen? Er hob seinen Sohn auf den Arm: Guck mal, dort! Wir sind da.
Die Wolken brannten orangefarben. Mahindan blinzelte. Die Leute riefen durcheinander und gestikulierten erregt. Seht doch, da!
Sie sahen einen Schlepper und ein größeres, schlankes Schiff mit einem hohen weißen Fahnenmast. Mit aufragendem Bug schoss es auf sie zu. Der Wind breitete die Flagge aus, rot und weiß, majestätisch am flammenden Himmel. Sie sahen das Ahornblatt, und ihr Schiff erbebte unter unbändigem Freudengeschrei.
Der Kapitän schaltete die Motoren ab und sie trieben ruhig dahin. Von oben kam ein hackendes Geräusch. Mahindan erblickte einen Helikopter, der mit seinen Rotorblättern den Himmel zerschnitt und auf seiner Unterseite ein rot aufgetragenes Ahornblatt trug. Jetzt waren schon drei Boote da und umringten das Schiff. Eine Willkommensparty. Die Leute an Deck winkten mit beiden Händen. Die rot-weiße Flagge schlug entschieden zurück.
Mahindan hielt seinen Sohn fest auf dem Arm. Sellian zitterte, ob vor Angst oder vor Freude, das konnte er nicht sagen. Bald bebte auch Mahindan am ganzen Leib. Seine Achselhöhlen wurden feucht. Die Zähne schlugen ihm aufeinander.
Ihr neues Leben. Nun fing es an.
INSCHALLAH, СКАЧАТЬ