Название: Paris abseits der Pfade (Jumboband)
Автор: Georg Renöckl
Издательство: Bookwire
Жанр: Путеводители
isbn: 9783991002970
isbn:
Rue Stephenson
Ali-Baba-Grotte für Bibliophile
Unsere Tour beginnt mit einem echten Insidertipp: In der Rue Pierre-l’Ermite Nummer 3 drückt Leila auf eine Klingel, neben der schlicht Librairie steht. Wenig später öffnet sich die Tür, wir stehen in einer wahren Ali-Baba-Grotte für Bibliophile – ein wunderschöner, weitläufiger, von eisernen Säulen abgestützter Raum voller alter und seltener Bücher. Leila, die mir vorher nicht allzu viel verraten hat, freut sich über meinen offen stehenden Mund. Früher sei das eine Schmiede gewesen, erklärt Nicolas, der hier arbeitet. Neben dem Erdgeschoß gibt es noch ein Kellergeschoß, in dem die Buchhändler regelmäßig Ausstellungen organisieren. Ein großzügiger Ort, der in dieser Form nur in dieser Gegend denkbar ist: Im Quartier Latin oder in Saint-Germain, wo man viel eher mit einer solchen Buchhandlung rechnen würde, wären die Mieten viel zu hoch. Vorsichtig schmökere ich in ein paar kostbaren Bänden, ein frivol-heiterer Erotik-Ratgeber aus dem frühen neunzehnten Jahrhundert wäre ein hübsches Souvenir, ist mir aber zu teuer. Viel günstiger und braver, aber dennoch schön sind hingegen die fantasievollen Klappbücher für kleine und größere Kinder, die die Librairie im Eingangsbereich aufgestellt hat.
Durch die Rue de la Charbonnière geht es, mit Blick auf das nahe Sacré Cœur, das von hier geradezu unwirklich aussieht, zum Centre Barbara. Seit acht Jahren gibt es dieses Kulturzentrum bereits. Neben einem reichhaltigen Konzertprogramm und Ausstellungen richtet sich das Zentrum vor allem an Künstler und Sozialprojekte: Dreihundert Künstler nützen derzeit die Ateliers, Proberäume und Aufnahmestudios, auch diverse Therapie- und Präventionsprogramme finden hier Platz. Sonja Lambert führt uns durch das Gebäude. Die gebürtige Serbin, die schon seit vielen Jahren im Viertel wohnt, ist hör- und sichtbar stolz auf das moderne, sich diskret in seine Umgebung einfügende Zentrum, das ehrgeizige Programm der Konzerte, aber auch auf die Rolle, die es für das Ansehen der Goutte d’Or spielt: Weit über die unmittelbare Umgebung hinaus bekannte Festivals wie „La Goutte d’Or en Fête“ oder „Magic Barbès“ werden vom Centre Barbara mitveranstaltet – hinschauen und hineingehen lohnt sich, irgendetwas ist immer los.
Leila führt mich weiter zur Brasserie de la Goutte d’Or an der Ecke zur Rue des Gardes. Fred und Tristan, die mit ihren Bärten und Kappen genauso aussehen, wie man sich junge Craftbeer-Brauer vorstellt, brauen fünfhundert Hektoliter Bier pro Jahr, das man in einigen Pariser Lebensmittelläden sowie in ausgewählten Monoprix-Filialen zu kaufen bekommt. Ein wenig Hipsterflair liegt neben der hopfigen Note natürlich in der Luft, die beiden sind mit viel Lust und Einsatz bei der Sache. Auch sie lieben ihr Viertel und legen Wert auf den lokalen Charakter ihrer Biere, selbst wenn der Hopfen aus Flandern stammt: Für das vollmundige Aroma des belgisch inspirierten Triple-Biers sind Kaffeebohnen aus einer Rösterei in der Nähe verantwortlich, die Gewürze, die das fein aromatische Château-Rouge-Bier unverwechselbar machen, kommen aus dem nächsten Gewürzladen, und in Erinnerung an die Kohlenlager des alten Nordbahnhofs brauen sie ein Charbonnière-Bier mit getoastetem Malz, dessen rauchig-milde Note einfach ideal zum noch sehr kühlen Frühlingswetter passt.
Die Rue des Gardes ist eine Designer-Straße, hinter deren Auslagen zahlreiche Nähmaschinen surren – die Stadt Paris stellt hier Pariser Jungdesignern günstigen Arbeitsraum zur Verfügung, der im Rest der Stadt kaum aufzutreiben ist. In der Rue Cavé kommen wir am Echomusée vorbei. Vor vierundzwanzig Jahren hatte Museumsgründer Jean-Marc Bombeau die Vision, in dem ehemaligen Eckcafé mit Stuckdecke einen Raum zu schaffen, der die Kultur in den Alltag der Jugendlichen des Viertels bringt und in dem auch ihre Kultur – Hip-Hop und Streetart – Platz hat. Viel Engagement und Herzblut steckt in diesem Ort, Jean-Marc ist stolz auf „seine“ Kinder, die mittlerweile erfolgreiche Hip-Hopper sind oder ihre Fotos ausstellen. Jeden Mittwoch findet eine Jamsession statt, Poetry Slams und Hip-Hop-Konzerte stehen regelmäßig auf dem Programm.
Doch wo ist nun, nach so viel Kultur, Mode, Craft Beer und Design, das mythenumrankte afrikanische Barbès, das wahlweise als Projektionsfläche für Ängste oder exotische Fantasien dient? Gleich ums Eck. Die Rue Myrha ist wohl die afrikanischste Gasse der Hauptstadt. Wir biegen nach rechts und stehen nach wenigen Schritten vor der Ferme de Paris, in der es lebende Hühner zum Selberschlachten zu kaufen gibt. Fotos darf ich keine machen, aber hineinschauen: In einem Verschlag drängen sich verschiedenfarbige Hühner, ein paar Enten, einige Perlhühner. 18 Euro kostet ein normales Huhn, 33 Euro ein schwarzes – anscheinend ist es nicht nur schwerer, sondern auch ungleich besser. Genaueres will mir der Verkäufer nicht verraten. Wenige Meter weiter liegt die Weinhandlung La Cave de Don Doudine, in der Leila gern einkauft – die Weine stammen von Kleinproduzenten, vieles ist bio, und sogar eine „Goutte d’Or“-Cuvée kann man kaufen, gekeltert freilich nicht in Paris, sondern in der Touraine.
Leila schickt mich nun alleine weiter, da sie ihre Tochter von der Schule abholen muss, gibt mir aber noch ein paar empfehlenswerte Adressen mit auf den Weg. Vorbei an islamischen Buchhandlungen, afrikanischen Lebensmittel- und Stoffläden, finsteren Kaschemmen sowie topmodernen, in schmale Baulücken gesetzten Wohnhäusern spaziere ich in Richtung Rue des Poissonniers. Ich lasse mir Zeit, um die Atmosphäre der kontrastreichen Straße wirken zu lassen. Auffallend sind die vielen „Associations“, die entweder Nachhilfestunden oder kreative Freizeitaktivitäten für Kinder anbieten, den gemeinsamen Einkauf von Bio-Lebensmitteln organisieren oder gegen die Abrissbirne kämpfen, die das Viertel, dessen Altbauten oft in sehr schlechtem Zustand sind, gerade von Grund auf verändert. Es ist ein typischer Aspekt des Pariser Lebens, den viele Besucher übersehen: Die Bewohner dieser Stadt verbringen überdurchschnittlich viel Zeit damit, sich zu engagieren, ihr Wohnviertel zu verändern, sich für die Verbesserung ihrer Lebensqualität oder der ihrer Nachbarn einzusetzen. „Association“ heißt „Verein“, doch wo man bei uns an Sparer- oder Blasmusiktreffs denkt, geht es in Paris meist um soziale oder politische Anliegen. Vielleicht ist diese Bereitschaft zum Engagement über die eigenen Interessen hinaus ja ein Erbe der revolutionären Epochen der Stadt, deren aufmüpfige Einwohner den Königen beziehungsweise führenden Köpfen der Republik seit jeher eine Mischung aus Angst und Respekt einflößen. Die Stadt profitiert letztendlich enorm von der Zivilcourage und dem Willen zur Mitbestimmung ihrer Bevölkerung, auch wenn man nicht mit jeder Bürgerinitiative, jedem Streik und jeder Demo einverstanden sein muss. Auch die Goutte d’Or ist heute nicht zuletzt deswegen eines der spannendsten Viertel der Stadt, weil sich die Menschen, die hier wohnen, die Gestaltung nicht aus der Hand nehmen lassen wollen und sich mit viel Einsatz auch um diejenigen kümmern, die von der Gentrifizierung verdrängt zu werden drohen.
Die Rue des Poissonniers, in der ich nun lande, ist, unschwer zu erraten, die Verlängerung der Rue Montorgueil und der Rue Poissonnière. Außer dem Namen erinnert nichts an die Karren, die einst den „frischen“ Fang von der nahen Küste über Nacht in die Hauptstadt gebracht haben. Heute ist sie ein Stück Afrika, bunt und laut. Beim Marché Dejean in der gleichnamigen Straße packe ich den Fotoapparat ein: Hier sind viele „wilde“ Händler an der Arbeit, die nicht fotografiert werden wollen und darauf meistens wütend reagieren. Auf improvisierten Ständen aus Karton bieten sie zwischen den Lebensmittelhändlern gefälschte Markensonnenbrillen, Gürtel oder Uhren an. Sehenswert ist ihre Wegräumtechnik, wenn eine Gruppe Polizisten am Ende der Straße auftaucht: In Sekundenbruchteilen ist die Ware zusammengerafft, der Stand per Fußtritt abgebaut, der Händler verschwunden. Am Ende des Marktes gibt es Maniok zu kaufen, in Bananenblätter verpackt, Kräuter in Plastiksäcken, schwarze, für europäische Augen nicht gerade appetitlich aussehende getrocknete Seehechte. Ein ungewöhnliches Fisch-Einkaufserlebnis bietet ein Geschäft am Ende der Rue de Suez: Dort werden riesige „afrikanische“ Fische, die oft aus Asien kommen, tiefgefroren im Ganzen verkauft, man kann СКАЧАТЬ