Название: Seelische Erkrankungen bei Menschen mit Behinderung
Автор: Walter J. Dahlhaus
Издательство: Bookwire
Жанр: Сделай Сам
Серия: aethera
isbn: 9783825162009
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Wichtig ist bei einer Diagnosefindung auch, eine zu frühe Festlegung auf eine Diagnose zu vermeiden. Man muss immer auch die Möglichkeit berücksichtigen, dass – auch wenn vieles dagegen spricht – einmal eine andere Diagnose zutreffen kann.
Eine 42-jährige Bewohnerin mit einer ausgeprägten Intelligenzminderung wurde zum wiederholten Mal in den Akutbereich einer psychiatrischen Klinik aufgenommen. Bei den häufigen früheren Aufnahmen stand jeweils ein erheblicher Erregungszustand mit Fremdaggressivität und Schreizuständen im Mittelpunkt. Unter der Diagnose einer psychotischen Episode wurde neuroleptisch behandelt, was den Zustand jeweils sehr rasch besserte, sodass die Bewohnerin nach einer Krisenintervention wieder in ihre vertraute Einrichtung zurückkehren konnte. Bei der erneuten Aufnahme zeigte sich grundsätzlich das gleiche Verhalten, dem erfahrenen Stationspfleger fielen nur geringfügige Verhaltensänderungen auf. (»Irgendwie schreit sie diesmal anders.«) Bei der körperlichen Untersuchung wurde ein »akutes Abdomen« festgestellt, also eine chirurgische Notfallsituation. Die am selben Tag durchgeführte erfolgreiche chirurgische Behandlung erbrachte die Diagnose einer Eileiterschwangerschaft.
Differenzialdiagnose
Nahezu jede Diagnose einer seelischen Erkrankung umfasst relativ eindeutige Kernsymptome, die die Diagnose erleichtern und bestätigen können, aber es gibt auch viele Symptome, die prinzipiell unterschiedlichen Erkrankungen zugeordnet werden können. Zur Klärung ist also eine Differenzialdiagnose notwendig.
aggressives Verhalten
So können insbesondere auto- wie fremdaggressive Verhaltensweisen durch unterschiedlichste Ursachen und Bedingungen ausgelöst werden. Die Feststellung von »aggressivem Verhalten« rechtfertigt noch keine diagnostische Einschätzung. Diese muss dann aber zwingend erfolgen (siehe hierzu auch das Kapitel »Aggressive Verhaltensweisen«, Seite 359 ff.).
Schlafstörungen
Ähnliches gilt für Schlafstörungen. Grundsätzlich kann das Schlafverhalten individuell sehr unterschiedlich sein. Äußere Faktoren wie Lärm, Wärme oder Mangel an frischer Luft können den Schlaf beeinträchtigen, ebenso freudige wie belastende Eindrücke. In den Wechseljahren kann bei betroffenen Frauen ein vorher stabiles Schlafverhalten schwer beeinträchtigt sein. Ein gestörter Schlaf kann aber auch Symptom einer Traumafolgestörung oder einer Psychose sein; außerdem können Angststörungen den Schlaf massiv beeinflussen. Depressionen können sowohl zu vermindertem wie auch zu vermehrtem Schlaf führen. Nicht zuletzt müssen körperliche Ursachen bedacht werden: Eine »Somnolenz«, also eine sehr ausgeprägte und zunehmende Schläfrigkeit kann beispielsweise durch einen erhöhten Hirndruck bedingt sein.
Auch die Feststellung eines anhaltend veränderten Schlafverhaltens ist mit der Notwendigkeit einer breiten diagnostischen Abklärung verbunden.
Angst
Hinter dem Symptom der Angst kann eine reale Bedrohung stehen, zum Beispiel wenn nach einer Traumatisierung weiter die Möglichkeit einer Täterexposition besteht.
Angst ist außerdem ein Kernsymptom psychotischer Erkrankungen sowie von Depressionen oder generell der Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS). Angst kann eine Ess-Störung begleiten oder ein Frühsymptom der Demenz bei nachlassender Orientierungsfähigkeit sein. Natürlich stellt Angst auch das zentrale Symptom bei den unterschiedlichen Formen einer »Angststörung« dar, hier oft noch begleitet von körperlichen Symptomen (siehe auch das Kapitel »Angst«, Seite 65 ff.).
Zwangssymptome
Auch die Feststellung einer Zwangssymptomatik ergibt noch keinen Hinweis auf die »Ätiologie«, also die Ursache des Zwangsverhaltens. Eine Zwangsstörung kann beispielsweise Ausdruck einer neurotischen Störung sein (siehe auch das entsprechende Kapitel, Seite 210 ff.).
Andrea, 20-jährig mit primärer Chromosomenanomalie (Turner-X0-Syndrom), zeigte in den Monaten vor einer angedachten Aufnahme in eine Lebensgemeinschaft zunehmend psychotisch anmutende Zwangssymptome (Kontrollzwänge), eine »lauschende Kopfhaltung« wie bei innerem Dialog sowie immer öfter eine aggressive Verteidigung der Zwänge. In einer einfühlsamen Klärung der Situation wurde ein tiefer Konflikt deutlich: zwischen dem Wunsch, die vertraute Geborgenheit im Elternhaus auch weiter genießen zu können, und der Lust auf Veränderung und das Zusammenleben mit Gleichaltrigen. In einer intensiven psychotherapeutisch ausgerichteten ergotherapeutischen Begleitung wurde an Ermutigung gearbeitet. Zunehmende Kontakte mit der angedachten Gemeinschaft, Besuche dort, einzelne Übernachtungen etc. ließen die Angst immer mehr zurücktreten, sodass die Freude auf die Veränderung gestärkt wurde. Die Zwangssymptomatik bildete sich letztlich gänzlich zurück.
Hinter Zwängen kann aber auch eine Psychose stehen. Sehr häufig ist eine Autismus-Spektrum-Störung Ursache einer Zwangssymptomatik. Daneben müssen auch weitere mögliche Ursachen bedacht werden. Die einzelnen hier angedeuteten Krankheitsbilder werden in den jeweiligen Kapiteln eingehend beschrieben.
Die hier geschilderten differenzialdiagnostischen Überlegungen stellen nur verhältnismäßig häufige Ursachen dar – immer gilt es, die jeweilige Situation mit dem behandelnden Arzt umfassend abzuklären.
Berücksichtigung der primären Behinderung
Teil der differenzialdiagnostischen Klärung ist auch die Berücksichtigung der primären Behinderung. So zeigen Menschen mit einem Fragilen-X-Syndrom häufig Ängste in ihrem Verhalten. Betreute mit einem Williams-Beuren-Syndrom entwickeln oft Zukunftsangst, Menschen mit einem Fetalen Alkoholsyndrom (FAS) Unruhe, Somatisierungen (»Bauchschmerzen«) sowie depressive Zustände. Angst ist auch bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit einem Angelman-Syndrom ein dringend zu beachtendes Symptom. Erwachsene mit einem Rubinstein-Taybi-Syndrom können ausgeprägte Stimmungsschwankungen zeigen, die an eine bipolare Störung denken lassen. Bei Menschen mit einer Tuberösen Hirnsklerose besteht oft eine Zwangssymptomatik.
Dies sind nur exemplarische Beispiele, die in der Einzelsituation gründlich erwogen werden müssen.
Diagnosis ex juvantibus
Eine besondere Form der Diagnose ist die »Diagnosis ex juvantibus«. Das bedeutet: Wenn eine Maßnahme bzw. ein Medikament, das zur Behandlung einer bestimmten Erkrankung eingesetzt wird, zur Verbesserung einer Symptomatik führt, kann dies eine Verdachtsdiagnose bestätigen.
Bei Simone, einer 16-jährigen Jugendlichen mit Autismus-Spektrum-Störung, traten erhebliche nicht einfühlbare morgendliche Stimmungsveränderungen mit Reizbarkeit und Müdigkeit auf, zum Teil verbunden mit nächtlichem Einnässen. Eine EEG-Untersuchung zeigte keine eindeutigen Hinweise, die die Verdachtsdiagnose epileptischer Anfälle gestützt hätte. Eine EEG-Dauerableitung war aufgrund der primären Symptomatik in Form erheblicher Ängste nicht möglich. Auch eine nächtliche Überwachung einschließlich eines Epi-Care®-Gerätes, das epileptische Anfälle registrieren kann, erbrachte keine eindeutigen Hinweise. Aufgrund der dringenden Verdachtsdiagnose einer Epilepsie mit schlafgebundenen Anfällen wurde dennoch eine antiepileptische Medikation durchgeführt. Die nächtliche Situation stabilisierte sich daraufhin vollständig.
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