Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen, Dramen & Gedichte (Über 200 Titel in einem Buch). Franz Werfel
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      Pastor Aram geriet in einen der schwersten Gewissenskämpfe seines Lebens:

      »Wie kann ich meine Gemeinde verlassen, jetzt in der Zeit ihrer höchsten Not?«

      Wieviel Angehörige der protestantischen Gemeinde sich in dem Transport befänden, wurde gefragt. Er mußte zugeben, daß bis auf einen geringen Bruchteil alles der altarmenischen oder unierten Kirche angehöre. Doch dies beruhigte ihn keineswegs:

      »Unter solchen Verhältnissen darf ich nicht nach Nichtigkeiten fragen. Ich bin der einzige Seelsorger, den sie haben.«

      E. C. Woodley beruhigte ihn:

      »Wir werden einen andern mit ihnen schicken. Ihr aber reist in eure Heimat. Dort wartest du, bis wir dich zu einem neuen Amt berufen.«

      »Und was wird aus den Kindern?« stöhnte Aram Tomasian.

      »Den Kindern kannst du dadurch nicht helfen, daß du mit ihnen in den Tod gehst. Das Waisenhaus von Zeitun ist unsere Anstalt. Du hast deine volle Pflicht getan, indem du die Waisen nach Marasch begleitet hast. Alles andere laß unsere Sorge sein. Du hast damit nichts mehr zu schaffen.«

      Die quälende Stimme in Aram war nicht zum Schweigen zu bringen:

      »Bin ich nicht zu mehr verpflichtet als zu meiner Pflicht?«

      Der alte E. C. Woodley zeigte Ungeduld, obgleich er sich Arams im Herzen freute:

      »Du glaubst doch nicht, Aram Tomasian, daß wir die Sache mit unserem Waisenhaus so ruhig hinnehmen werden. Was mit den Kindern geschehen wird, darüber ist noch lange nicht das letzte Wort gefallen. Du aber stehst uns im Wege, mein Junge! Als Pastor von Zeitun bist du kompromittiert. Verstanden? Gut! Und mithin enthebe ich dich feierlich deines Amtes als Waisenhausdirektor.«

      Aram fühlte, daß er nur noch ein paar Minuten stark bleiben müsse, und Woodley werde dann seinem Willensentschluß keinen Widerstand mehr leisten, sondern ihn segnen für seinen christlichen Opfermut. Trotz dieses deutlichen Gefühls aber sagte er nichts mehr und beugte sich den Argumenten seines Missionsvaters. Für Howsannah und Iskuhi glaubte er es zu tun. Und doch erfüllte ihn, sooft er aus seinem unruhig bilderreichen Schlaf auffuhr, das Bewußtsein einer schweren Niederlage, eines Frevels an seiner Auserwählung und die Scham der Charakterschwäche.

      Am andern Morgen begab sich Reverend Woodley in Begleitung des amerikanischen Konsularagenten zum Mutessarif und erwirkte für das Ehepaar Tomasian sowie für Iskuhi einen Reiseschein bis Yoghonoluk. Dieser lautete freilich nur für vierzehn Tage, binnen welchen die Reisenden ihr Ziel erreicht haben mußten. Trotz Iskuhis schwerer Verletzung waren sie daher gezwungen, die Fahrt schon am drittnächsten Tag anzutreten. Sie hätten den kürzeren Weg über Bagtsche wählen können, welches die nächstgelegene Station der anatolischen Eisenbahn war. Man riet ihnen dringend ab. Die Taurusstrecke war mit Soldatenzügen für die vierte Armee Dschemal Paschas überlastet. Die Vorsicht aber gebot heute, jede überflüssige Begegnung mit dem Militär zu vermeiden, zumal in Gesellschaft armenischer Frauen. Da der Pastor die Freiheit der Wahl an die Missionsväter abgetreten hatte, so fügte er sich ihnen auch, was den Reiseplan betraf. Anstatt der kurzen Eisenbahnfahrt lag ein beschwerlich endloser Weg von vielen Tagen vor ihnen. Ins Gebirge nach Aïntab zuerst, und dann über die gewundene elende Paßstraße des Taurus nach Aleppo hinab. Die Missionsväter stellten dem Pastor einen großen zweispännigen Wagen zur Verfügung und außerdem ein Reservepferd, das auch als Reitpferd verwendet werden konnte. Zugleich telegrafierten sie nach Aïntab an ihre Vertreter, damit dort ein neues Gespann bereitgehalten werde.

      Die Reisenden hatten die Vorstadt von Marasch noch nicht verlassen, als ein Keuchen und flehentliches Geschrei den Hufschlag übertönte. Das Waisenmädchen Sato und der Hausknecht Kework rannten jammernd hinter ihnen drein. Zum Glück war es früher Morgen und noch niemand auf der Straße, um diese Szene zu verraten. So unangenehm es auch werden konnte, dem Pastor blieb nichts anderes übrig, als die unerwünschten Zuzügler in seine Gesellschaft aufzunehmen. Beide waren abnorme Fälle. Die kleine ausgemergelte Sato hatte als schwererziehbar und als Kreuz der Waisenanstalt von Zeitun gegolten. Alle Vierteljahre einmal kamen über Sato Anfälle von Vagabundiersucht. Sie verschwand dann und blieb mehrere Tage aus, um in halb tierischem Zustand, verdreckt und verlaust, sehr kleinlaut wiederzukehren. Zur Zeit dieser Anfälle war mit ihr nichts anzufangen. Sie verlor die Fähigkeit des geordneten Sprechens und alle sonstigen mühsam anerzogenen Errungenschaften. Auch nützte es gar nichts, sie einzusperren. Wie ein Gespenst entkam sie durch die Wände. Gelang es ihr aber nicht durchzubrennen, dann wurde Sato zum Satan und setzte das ganze Haus durch ihre geniale Erfindungskraft an Bosheit und Schadengier in Schrecken. Erst Iskuhis Einflußnahme hatte dieses Übel gemildert, vielleicht sogar aufgehoben, und zwar nicht etwa durch eine besondere Erziehungsleistung. Von Pädagogik verstand Iskuhi sehr wenig. Die Kleine aber hatte zu dem jungen Mädchen eine verzehrende Liebe gefaßt. Diese Liebe richtete in dem krankhaften Hirn Satos schwere Verwirrungen der Eifersucht an und schien sogar die Kraft zu haben, das allergefährlichste Gefühl zu erzeugen, Selbstverachtung. In ihrem weiten Kittel heranflatternd, schrie Sato unausgesetzt:

      »Kütschük Hanum! Fräulein! Bitte Sato nicht allein lassen!« Dieses dünnknochige Nichts von Menschenkind bettelte mit todesgroßen und doch frechen Augen, in denen eine entschlossene Kraft lag, der man sich nicht entziehen konnte. Iskuhi und auch Howsannah hatten sich dieser Sato gegenüber niemals des Widerwillens, ja manchmal sogar eines Schauders erwehren können. Selbst wenn sie reingewaschen und gestriegelt war, flößte sie den Frauen einen körperlichen Ekel ein. Jetzt aber mußte, so peinlich der Zuwachs auch störte, die Kleine auf dem Rücksitz des Wagens verstaut werden. Der Knecht Kework nahm neben dem Kutscher Platz. Kework stammte aus Adana. Seitdem er dort bei einem der zahlreichen »Ereignisse« als halbwüchsiger Junge einen Kolbenhieb über den Kopf erhalten hatte, war er ein gutmütiger Kretin geblieben. Er konnte nur stotternd reden. Und wenn er, ähnlich wie Sato von der Vagabundiersucht, von seinem Tanzwahn befallen wurde, so ließ sich auch mit ihm nichts anfangen. Dieser feierliche Wahn, dessentwegen er der Tänzer genannt wurde, war eine stille und sehr harmlose Anfälligkeit, die sich nur selten einstellte, zumeist dann, wenn ihn etwas erregt hatte. Sonst aber versah Kework treulich seinen Dienst als Ofenheizer, Wasserträger, Holzhacker, Gärtner und leistete mit stummer Leidenschaft die Arbeit von zwei Männern. Wie viele wertvolle Kinder und Erwachsene wären zu retten gewesen, so ging es Aram durch den Kopf, und Gott schickt mir eine kleine Verbrecherin und einen Idioten. Dem Pastor war es, als läge in dieser Tatsache eine bedeutsame Erwiderung auf sein laues und opferflüchtiges Verhalten den ausgetriebenen Zeitunlis gegenüber. Sato hingegen wurde von einer ungestümen und ungetümen Lustigkeit erfaßt. Sie drängte sich mit ihren spitzen Knien an Iskuhi, sie lachte und gluckste in den Tag hinein, als sei die Ausstoßung das herrlichste Feiertagsgeschenk der Welt. Vielleicht war sie noch niemals in einem Wagen gefahren. Sie ließ ihre magere Hand mit den breiten, garstigen Nägeln wie über einen Bootsrand hinaushängen und im kühlen Kielwasser der Luft entzückt nachschleifen. All diese Beweise des Lebensglücks erweckten aber nur das Unbehagen und den Zorn der Reisenden. Iskuhi stieß ihre Knie zur Seite. Der Pastor, der neben dem Wagen ritt, drohte Sato, er werde sie, wenn sie nicht ruhig sitze, entweder erbarmungslos aus dem Wagen werfen oder ihr bestenfalls die Hände fesseln.

      Die ermüdende Reise nach Aïntab – man mußte zweimal in elenden Dorf-Chanen übernachten – verlief ohne Zwischenfall. In Aïntab selbst rasteten sie drei Tage. Die Armeniergemeinde hatte auf das Telegramm E. C. Woodleys hin die neuen Pferde schon bereitgestellt. Seitdem am gestrigen Tag der erste Zeitun-Transport in der Stadt eingetroffen war und sie die Elenden mit ihren eigenen Augen sahen, warteten die Armenier von Aïntab fassungslos auf ihr eigenes Ende. Sie verließen kaum mehr ihre Häuser. Furchtbare Gerüchte gingen um. Es hieß, die Regierung werde mit Aïntab kürzeren und auch billigeren Prozeß machen: der armenische Stadtbezirk würde einfach niedergebrannt und die Einwohner zusammengeschossen werden. Dennoch überbot sich die Gemeinde an Liebesbeweisen gegen СКАЧАТЬ