Название: Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen, Dramen & Gedichte (Über 200 Titel in einem Buch)
Автор: Franz Werfel
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9788075835543
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Noch bis Aleppo ging alles gut, obgleich man vier Tage lang über die Pässe des Taurus hinschlich, die größten Schwierigkeiten in den Stationen mit dem Pferdewechsel hatte und zweimal die Nacht in leeren Scheunen verbringen mußte. Die große Stadt aber mit ihrem Riesenbazar, den gepflasterten Straßen, den vielen Amts- und Militärpalästen, den schönen Gärten, den prächtigen Missionen, Hotels und Herbergen wirkte wie eine Erlösung auf die seelisch und körperlich Heruntergekommenen. Trotz der scharfen Untersuchung durch die Saptiehs an der Stadtgrenze – Sato und Kework waren nach einigen herzklopfenden Minuten als Dienerschaft durchgeschlüpft – senkte das Straßenbild der gleichgültig ziehenden Menschenströme den Schein der Freiheit in die Seele der Unfreien. Der Empfang durch die Missionare und die Gemeindevertretung unterschied sich jedoch gewaltig von der Aufnahme in Marasch und Aïntab. Die Missionare waren hier mit soviel Geschäften, Verpflichtungen, Lasten überhäuft, es ging bei ihnen so bürokratisch zu, daß Aram ihre Hilfe nicht in Anspruch nehmen wollte. Nur zwei bescheidene Zimmer erbat er für sich und seine Familie. Die armenische Gemeinde wiederum war steinreich und daher auch hartherziger und ängstlicher als die kleinen Leute von Aïntab. Die Sorge um ihr Schicksal war ja verschärft dadurch, daß sie mehr zu verlieren hatte als jene. Und noch eines: Als der Pastor von Zeitun sprach, merkte er sofort, daß der Name des verfemten Ortes bei seinen großstädtischen Brüdern beklommene Gefühle erweckte. Sie wollten offenbar vor der Obrigkeit mit jenen nichts zu tun haben, die als hartnäckige Aufrührer angeprangert waren. Die Anwesenheit des Zeituner Pastors in ihrer Kanzlei konnte ihnen Verlegenheiten bringen. Jetzt galt es, um der eigenen Rettung willen, sich in fanatischer Staatstreue selbst zu überbieten und keinen bedenklichen Umgang zu pflegen. Man trug dem Pastor eine Geldunterstützung an. Sonst könne man nichts für ihn tun. Er verzichtete dankend.
Die Zeit drängte, und Tomasian war gezwungen, selbst einen Wagen, eine Yayli, zu mieten, wie sie auf den Standplätzen in großer Zahl warteten. Zuerst lehnte der Fuhrwerksbesitzer die Zumutung ab, sich in die Unbequemlichkeit einer solchen Reise zu stürzen. Bis an die Küste hinter Antiochia. Er griff sich, über solche Narrheit entsetzt, an den Fez. Dann wurde nach vielen Beteuerungen mit »Inschallah« und »Allah bilir« der Fahrpreis dennoch ausgehandelt, worauf der Mann zwei Drittel des Geldes vorausverlangte und auch bekam, denn alle anderen Kutscher hätten sich ebenso benommen, der Pastor wußte es. Aram wählte die Straße nach Alexandrette, trotz des großen Bogens und Umwegs, den sie beschrieb. Er hoffte, in anderthalb starken Reisetagen bei der Abzweigungsstelle nach Antiochia und von dort in vierundzwanzig Stunden zu Hause zu sein. Knapp vor Sonnenuntergang des ersten Tages aber stieg der Kutscher vom Bock, besichtigte grämlich Pferdehufe, Räder, Achse und erklärte, er habe genug, die Pferde seien abgehetzt, der Wagen zu schwer belastet, er sei nicht verpflichtet, alle möglichen Armenier durch die Welt zu führen, und er werde jetzt sogleich umkehren, um noch zu einer guten Stunde in Turont einzutreffen, wo er Verwandte habe. Keine Bitte half, nicht einmal die Erhöhung des Fahrpreises um eine beträchtliche Summe. Er habe seinen Teil erhalten, er benötige nicht mehr, bekundete der Türke voll Großartigkeit. Er wolle aber ein übriges tun und die Fahrgäste das Straßenstück bis nach Turont völlig unentgeltlich zurückbringen, woselbst sie in dem prächtigen Chan seiner Verwandten in echten Betten trefflich nächtigen könnten. Pastor Tomasian hob den Stock und hätte den Unverschämten gezüchtigt, wäre ihm Howsannah nicht in den Arm gefallen. Darauf warf der Mann die Gepäckstücke aus der Yayli, zog die Zügel an und ließ die fünf Menschen mitten in einer leeren und öden Welt stehen. Sie wanderten dann noch eine Stunde lang auf der Straße weiter, in der Hoffnung, ein Dorf oder eine Fahrgelegenheit werde sich zeigen. Doch weit und breit kam nichts, kein Karren, keine Scheune, keine Hütte, kein Dorf. Wiederum mußte eine Nacht unter freiem Himmel zu Ende gelebt werden, und sie zog langsamer vorbei als die erste, denn niemand hatte mit ihr gerechnet. Die Biegung der Straße schimmerte im schwachen Mondlicht wie eine gefährliche Säbelklinge. Sie legten sich deshalb fernab von ihr auf eine nackte Erdstelle. Doch auch die Allmutter Erde erwies sich den Armeniern gehässig. Von unten drang Feuchtigkeit durch die Decken und eine summende Glocke von Sumpfluft stülpte sich über sie, in welcher die Gelsen ihr giftiges Lied sangen. Kework und der Pastor wachten, letzterer ohne den Jagdstutzen aus der Hand zu legen, den er von den Vätern in Marasch zur Waffe erhalten hatte.
Die letzte Steigerung des Elends aber blieb den folgenden fünfzig Stunden vorbehalten, welche die Wanderer brauchten, um Yoghonoluk zu erreichen. Es war ein Wunder Gottes, daß mit Howsannah kein Unglück geschah und daß Iskuhi nicht zusammenbrach. Der Pastor beging den Fehler, anstatt weiter auf der großen Straße zu bleiben, allzufrüh auf einen Karrenweg in südlicher Richtung abzuschwenken. Dieser Weg verlor sich nach einigen Meilen im Nichts. Und nun begann das große Suchen und Irren. Auf diesem letzten Dornenpfad bewährte sich Keworks unerschöpfliche Körperkraft. Er trug die Frauen abwechselnd auf seinem Rücken, weite Strecken lang. (Das Gepäck hatte man bald liegengelassen.) Der Pastor stapfte voran, nur auf eines bedacht, die Richtung innezuhalten, die das Gewölk der Küstenberge angab. Immer wieder fand sich ein Karrenweg, dem man ein Stück weit folgen konnte und der auf morschen Holzbrettern über die Wasserläufe setzte. Hie und da half auch ein Kangni, ein Ochsenkarren, über eine längere Strecke hinweg. Bösen Erlebnissen durch Menschen jedoch waren sie nicht ausgesetzt. Die wenigen Moslems, die ihnen begegneten, Bauern, erwiesen ihnen Freundliches, reichten ihnen Trinkwasser und Käse. Wäre ihnen aber Böses zugestoßen, sie hätten sich nicht gewehrt. Fühllos gegen die Schmerzen ihrer zerschlagenen Glieder, ihrer blutenden Füße, schwankten sie in einer narkotischen Wolke dahin, in der Höhle ihrer Erschöpfung. Selbst der starke Aram taumelte des Weges, nicht mehr ganz bei sich, verloren in einer schaukelnden Bilderwelt. Manchmal lachte er laut vor sich hin. Eine merkwürdige Kraft der Schmerzüberwindung bewies Sato. Auf ihren wunden, blauschwarz gelaufenen Füßen trabte sie hinter Iskuhi, als sei sie von ihren Streifzügen her solches gewöhnt.
Als Gabriel Bagradian die Vertriebenen auf den Kirchenstufen erblickte, waren sie noch in jenem Zustand erschöpfter Entrückung. Doch da sie jung waren, da die Wucht des Gerettetseins sie plötzlich überfiel, da die alten Gesichter des Vaters, des Priesters, des Doktors vor ihnen schwebten, da zitternde Worte erklangen, da die Wärme der Heimat sie umgab, kamen sie schnell zu sich, und die übermenschliche Ermattung wich ohne Übergang einer erregten Lebhaftigkeit.
Pastor Aram Tomasian beteuerte immer wieder: »Denkt nicht an die alten Massaker! Das ist viel schlimmer, viel trauriger, viel unerbittlicher als alle Massaker, und vor allem viel langsamer. Es bleibt bei Tag und Nacht ...«
Er preßte die Hände gegen die Schläfen:
»Ich kann damit nicht fertig werden ... Immer habe ich die Kinder vor den Augen ... Wenn sie Woodley nur retten könnte!«
Doktor Altouni bemühte sich schweigsam um Iskuhi. Die Männer aber redeten auf Aram ein. Nur allzuverständliche Fragen kreuzten einander:
»Wird es bei Zeitun bleiben?« – »Ist nicht die Gemeinde von Aïntab zur Stunde auch schon unterwegs?« – »Was hört man in Aleppo?« – »Gibt es keine Nachrichten aus den anderen Vilajets?« – »Und wir?«
Der Arzt, der den Verband heruntergewickelt hatte und Iskuhis braunrot verfärbten Arm nun mit warmem Wasser wusch, lachte schartig auf:
»Wohin will man uns noch deportieren? Am Musa Dagh ist man schon deportiert.«
Vom Platz her schlug der Lärm der Menge in den Raum. Ter Haigasun schnitt das Hin und Her ab. Er wandte sich mit seinen scheuen und zugleich so willensstarken Augen an Bagradian:
»Haben Sie die Güte, Gabriel Bagradian, und sprechen Sie zu den Leuten dort draußen ein paar beruhigende Worte, damit sie endlich nach Hause gehn.«
Warum suchte sich Ter Haigasun für seine Bitte gerade Gabriel aus, den Pariser, der zu diesen Dörflern keinen Zugang hatte? Es wäre die Sache des Muchtars Kebussjan gewesen, zu seinen Leuten zu reden. Oder verfolgte СКАЧАТЬ