Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen, Dramen & Gedichte (Über 200 Titel in einem Buch). Franz Werfel
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      »Effendi! Ich stehe Seiner Exzellenz, dem Mutessarif, und dir zu Diensten. Befiehl, was zu geschehen hat.«

      Anstatt dessen aber gab er sich zum erstenmal eine Blöße:

      »Ich weiß nichts von Verbrechern und Revolutionären, Effendi.«

      »So kannst du uns den Platz nicht nennen, wo sich das Gesindel versteckt, um bei hellichtem Tage redliche Staatsbürger zu überfallen?«

      »Da ich das Gesindel nicht kenne, so kenne ich auch seinen Aufenthaltsort nicht.«

      »Das tut mir leid. Das Schlimmste aber ist, daß du in der letzten Freitagnacht zwei von diesen Staatsfeinden in deinem eigenen Hause empfangen hast.«

      Nazareth Tschausch hob seine gichtischen Finger zum Schwur und leugnete. Es klang aber nicht sehr überzeugend. Da hatte der Kaimakam einen Einfall, und es war kein Einfall der Tücke, sondern er entsprang aufrichtig seinem bequemen Wesen, das alle Härte verabscheute:

      »Weißt du was, Muchtar? Ich habe eine Bitte an dich. Mir werden all diese Ungelegenheiten mit euch nachgerade zuwider. Ich bin ein friedlicher Mann und kein Polizeihund. Nimm mir die Sache ab. Ich bitte dich, nach Marasch zu fahren! Sprich du mit dem Mutessarif! Du bist der Stadtvater, er ist der Verantwortliche. Meine Meldung über das Vorgefallene hat er in der Hand. Ihr beide werdet das Richtige schon ausfindig machen.«

      »Ist das ein Befehl, den du mir gibst, Effendi?«

      »Ich sage dir doch, eine persönliche Bitte. Du kannst sie ablehnen, aber es würde mich schmerzen.«

      Der Kaimakam rechnete mit einem zwiefachen Gewinn. Er wurde Tschausch los, ehe er ihn einsperren mußte, und überstellte zugleich dem Mutessarif die wichtigste Persönlichkeit der Stadt zur Amtshandlung. Nazareth Tschausch dachte lange nach. Die Querfalten über seiner Nasenwurzel reichten hoch in die Stirn. Er richtete sich an seinem Stock auf. Aus dem überlegenen war plötzlich ein schwerfälliger Mann geworden.

      »Wenn ich nach Marasch gehe, begebe ich mich in Gefahr ...«

      Der Kaimakam erwies ihm beruhigende Güte:

      »Gefahr? Warum? Die Straße ist sicher. Ich will dir meinen eigenen Wagen leihen, und zwei Saptiehs sollen ihn zu deinem Schutz begleiten. Auch bekommst du einen Empfehlungsbrief an den Mutessarif mit, den du vorher lesen kannst. Und wenn du noch andre Wünsche hast, so werde ich sie erfüllen.«

      Die gefurchten Züge des Bergarmeniers wurden ganz grau. Er stand alt und verfallen da wie der Stadtfelsen von Zeitun. Verzweifelt suchte er nach Gegengründen. Aber seine Lippen unter dem hängenden Schnurrbart regten sich nicht. Eine unbekannte Macht lähmte seinen Willen. Er nickte nur schwach. Am nächsten Tag verabschiedete er sich von den Seinen ohne viel Aufhebens. Eine kleine Reise. Er werde kaum eine Woche ausbleiben. Sein ältester Sohn begleitete ihn zum Wagen des Kaimakams. Das Einsteigen fiel ihm wegen seiner kranken Hände und Füße schwer. Der Jüngling stützte ihn. Während Tschausch den einen Fuß aufs Trittbrett hob, sagte er gelassen und leise, damit der Kutscher nichts höre:

      »Oglum, bir, daha gelmem. Mein Sohn, ich werde nicht wiederkehren.«

      Er behielt recht. Der Mutessarif von Marasch machte mit Nazareth Tschausch nicht viel Federlesens. Trotz des warmen Geleitbriefes wurde er als Träger einer ihm verhüllten Schuld empfangen, scharfen Kreuzverhören unterzogen und schließlich als Hochverräter und als Mitglied einer staatsumstürzenden Verschwörung in das Gefängnis von Osmanije geworfen. Da man auch bei weiteren Versuchen nichts über die geheime Organisation der armenischen Verratsbewegung aus ihm herausbekommen konnte, ja nicht einmal etwas über die Deserteure von Zeitun erfuhr, verabreichte man ihm die Bastonnade schärfsten Grades. Nachher wurden seine blutigen Füße mit einer ätzenden Säure übergossen. Dem war sein Körper nicht mehr gewachsen. Er starb nach einer Stunde unfaßbarer Qual. Vor den Fenstern des Gefängnisses spielte Janitscharenmusik. Sie sollte mit Trommeln und Pfeifen die Schreie der Gefolterten hinter den Fenstern zudecken.

      Auch der Märtyrertod des Nazareth Tschausch hatte nicht die erwarteten Folgen. Es geschah vorerst nichts. Nur die Trauer und dumpfe Verzweiflung des Volkes nahm eine fast stoffliche Greifbarkeit an. In der finsteren Bergstadt brütete nun auch menschliche Finsternis, die den Atem verschlug wie schwarzer Nebel. Der März mußte kommen, damit zwei Vorkommnisse der Regierung endlich die Gelegenheit gaben, ihre Absichten zu verwirklichen. Das erste Geschehnis war ein Schuß aus dem Fenster. Ein Gendarmerieposten, der im Stadtbezirk Yeni Dünya vor dem Hause des hingerichteten Muchtars Tschausch vorbeischritt, wurde aus eben diesem Hause beschossen und leicht verwundet. Anstatt nun eine regelrechte Untersuchung durchzuführen, erklärte der Kaimakam lediglich, sein Leben sei in Zeitun bedroht, und verlegte, nach allen Richtungen Telegramme sendend, seine Residenz in eine außerhalb der Stadt gelegene Kaserne. Auch diese Handlungsweise entsprang deutlich seinem Wesen, das aus Dummschlauheit und ängstlichem Ruhebedürfnis gemengt war. Zugleich ließ er zum Schutze der mohammedanischen Bevölkerung eine »Bürgerwehr« ausrüsten, das heißt einige rasch zusammengetrommelte Hooligans bekamen ganz nach abdulhamidischem Muster je eine grüne Binde um den Arm und ein Mausergewehr in die Hand geliefert. Die guten türkischen Bürger, die in Zeitun lebten, rechtlich-würdige Menschen, waren die ersten, die sich über diesen Schutz empörten, den man ihnen angedeihen ließ. Sie gingen zum Kaimakam und forderten die sofortige Abschaffung der Wache. Es half nichts. Die Behörde war unerbittlich um ihre Sicherheit besorgt. Die Bürgerwehr gab nun endlich den sauberen Anlaß für jenen zweiten Vorfall, der die Entscheidung brachte. In einem kleinen öffentlichen Garten der Neustadt, Eski Boston genannt, pflegten sich am Nachmittag armenische Frauen und Mädchen gerne zu ergehen. Um einen schönen Brunnen standen ein paar Bänke im Schatten alter Platanen. Kinder spielten vor dem Brunnen. Die Frauen plauderten und handarbeiteten auf den Bänken. Ein Scherbetverkäufer schob seinen Wagen im Kreis. Dieser Garten wurde nun von den verlumptesten Mitgliedern der neuen Bürgerwehr überfallen. Die keuchenden Gesellen warfen sich auf die Armenierinnen, würgten sie und begannen ihnen die Kleider vom Leibe zu reißen. Denn ebenso groß wie die Mordlust an den Männern der verfluchten Rasse war die Tollheit nach ihren Weibern, diesen zartgliedrigen Geschöpfen mit ihren schwellenden Lippen und ihren fremden Augen. Wehgekreisch und Kinderschrillen erfüllte die Luft. Doch im Nu war Hilfe da. Eine Übermacht von armenischen Männern, die, Böses ahnend, den Stadtschützlern nachgeschlichen waren, schlug sie mit nackten Fäusten, Riemen und Stöcken krumm und lahm und nahm ihnen, zum eigenen Verderben freilich, sämtliche Gewehre und Bajonette ab.

      Offener Aufruhr gegen die Staatsgewalt! Der Tatbestand ließ sich nach dieser Entwaffnung der Hilfspolizei durch Aufständische nicht mehr leugnen. Noch am selben Abend wurde vom Kaimakam eine Auslieferungsliste herausgegeben, in der all diejenigen Einwohner namentlich angeführt waren, welche vom Gemeinderat selbsttätig der verhaftenden Behörde zuzuführen seien. In ihrer rasenden Erbitterung traten die betroffenen Männer zusammen, taten einen großen Schwur und verschanzten sich in einem alten Tekkeh, in einem verlassenen Derwisch- und Wallfahrtskloster, eine halbe Stunde östlich der Stadt. Als ihnen davon die Kunde ward, stieg vom Ala Kaja und andern Punkten des nahen Gebirges ein Teil der Deserteure nieder und vereinigte sich mit den Geflüchteten. In der kleinen Festung lagen alles in allem ungefähr hundert Mann.

      Der Mutessarif in Marasch und die Regierungsspitzen in Stambul sahen sich am Ziel ihrer Wünsche. Die Zeit der kleinen Herausforderungen war vorüber und der effektvolle Aufruhr in schönster Blüte. Nun durften die neutralen und verbündeten Konsuln ihre Augen vor den armenischen Umtrieben nicht mehr verschließen. Schon zwei Tage später traf in Zeitun militärische Assistenz ein, vorläufig zwei Kompanien von Linieninfanterie. Der Jüs-Baschi, der kommandierende Major, begann sofort mit der Belagerung. Aber mochte er nun ein wirklicher Held sein oder nur ein Schwachkopf – als er ungedeckt hoch zu Roß an der Spitze einer Abteilung auf das Tekkeh zusprengte, um die Festung auf diese sehr offenherzige Art im СКАЧАТЬ