Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen, Dramen & Gedichte (Über 200 Titel in einem Buch). Franz Werfel
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Читать онлайн книгу Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen, Dramen & Gedichte (Über 200 Titel in einem Buch) - Franz Werfel страница 29

СКАЧАТЬ nicht ausgenommen. Sie haben pünktlich und vollzählig gestellt zu sein, sie und das gesamte Personal der Anstalt.«

      Pastor Aram trat einen kurzen Schritt zurück:

      »Darf ich Sie fragen, ob für diese hundert unschuldigen Kinder gesorgt werden wird? Es sind sehr viele unter zehn Jahren darunter, die niemals noch einen längeren Fußmarsch zurückgelegt haben. Und Kinder brauchen Milch.«

      »Sie haben keine Fragen zu stellen, Pastor«, schrie der Oberst, »sondern meine Befehle entgegenzunehmen. Sie befinden sich seit einer Woche im Kriegsgebiet.«

      Wäre Tomasian unter diesem Gebrüll zusammengesunken und in Furcht erstorben, der Bimbaschi hätte ihm vielleicht von seiner befriedigten Höhe herab die Ziegen zugebilligt. Der Pastor aber fuhr in ruhiger Hartnäckigkeit fort:

      »Ich werde also die Ziegenherde unseres Hauses dem Transport nachtreiben lassen, damit die Kinder ihre gewohnte Milch erhalten.«

      »Sie werden Ihr freches Maul halten, Pastor, und sich unterwerfen.«

      »Ich werde ferner Sie, Effendi, für das Schicksal des Waisenhauses verantwortlich machen, das unverletzliches Eigentum amerikanischer Staatsbürger ist, die unter dem Schutz ihres Botschafters stehn.«

      Der Bimbaschi fand zuerst kein Wort. Die Drohung hatte wahrscheinlich gewirkt. Dergleichen Götter werden schnell kleinlaut, wenn höhere Götter in Sicht kommen. Nach einer längeren, für einen Oberst ziemlich schmachvollen Pause bebte er:

      »Wissen Sie, daß ich Sie vertilgen kann wie ein Ungeziefer? Ich brauche nur zu hauchen, und Sie haben nie gelebt!«

      »Ich werde Sie daran nicht hindern«, erwiderte Pastor Aram, und er meinte seine Worte ernst, denn ein ungeheurer Todeswunsch hatte ihn überwältigt.

      Wenn man Aram, Howsannah, Iskuhi fragte, welcher Zeitpunkt der Ausweisung für sie der schrecklichste gewesen sei, so antworteten alle drei: »Der Augenblick, bevor sich unser Transport in Bewegung setzte.« Es war ein Augenblick, in dem das tatsächliche Elend nur halb so stark sprach wie eine traumartige Zerschlagenheit, eine uralte Grauenserfahrung des Blutes, das sich vielleicht an dumpfe Urzeiten vor der errungenen Seßhaftigkeit und Rechtssicherung erinnern mußte. Eine Masse von tausend Menschen, ehrlos und hilflos zusammengeschweißt, fühlte jetzt nicht nur den endgültigen Verlust alles Eigentums und die beginnende Gefahr des Lebens, sie fühlte sich darüber hinaus als Gesamtheit, als Volkheit um die Aufstiegsmühe und den Kulturertrag von Jahrtausenden gebracht. Pastor Aram und die beiden Frauen waren von dieser allgemeinen und unergründlichen Schwermut mit umfangen.

      Ein dunkler Tag mit niederhängendem Gewölk, in dem die Berge von Zeitun ihre vertrauten Häupter verbargen; für den Marsch weit günstiger als sonniges Wetter. Und doch schien die äußere Trübnis des Tages die Rücken der Ausgestoßenen tiefer zu beugen als die Lasten, die ihnen bewilligt worden waren. Der erste Schritt war etwas sehr Großes, etwas Heilig-Entsetzliches, das jede Seele durchzuckte. Die Familien drängten sich dicht aneinander. Kein Wort, nicht einmal ein Kinderweinen war zu hören. Doch schon nach einer halben Stunde, als das letzte Vorstadthaus hinter dem Volke lag, wurde es besser. Die ursprüngliche Kindlichkeit der Menschen, ihr rührend-vergeßlicher Leichtsinn gewann für einige Zeit die Oberhand. Wie aus der ersten Dämmerung ein einzelnes bescheidenes Zwitschern aufwacht, und schon fällt der ganze Chor ein, so lag bald über der Wanderung ein dichtes Geflecht zackiger Kinderstimmen. Beruhigende Mahnungen der Mütter. Auch die Männer riefen einander dies und jenes zu. Stellenweise konnte man schon ein geducktes Lachen hören. Viele Frauen und ältere Leute saßen auf Eseln, die man zugleich mit Bettzeug, Decken und Säcken beladen hatte. Der begleitende Offizier duldete es. Er schien die Härte der Ausführungsbefehle auf eigene Verantwortung und Gefahr mildern zu wollen. Auch Aram hatte für seine Frau einen Reitesel besorgt. Sie ging aber meist nebenher, da sie die Bewegung des Reitens fürchtete. Obgleich es klüger gewesen wäre, sie an der Spitze traben zu lassen, bildeten die Waisenkinder die Nachhut des Transportes. Hinter ihnen kam nur mehr die Ziegenherde, die der Pastor unbekümmert und ohne Rücksicht auf jenes Gespräch dem Zuge hatte nachtreiben lassen. Die Kinder empfanden das Ganze anfangs als eine vergnügliche Abwechslung und als ein rechtes Abenteuer. Iskuhi, die sich zu ihnen hielt, schürte diesen Frohmut, so gut sie nur konnte. Niemand hätte ihr Aufregungen und schlaflose Nächte angesehen. Auf ihrem Gesicht lag Gegenwartsfreude und Lebenslust. So zart und schwach ihr Körper auch schien, die allmächtige Anpassungskraft der Jugend hatte alles überwunden. Sie versuchte sogar, unter den Kindern ein Lied in Schwung zu bringen. Es war ein schönes Lied aus Yoghonoluk. Die Menschen dort sangen es bei der Arbeit im Weinberg und in den Obstgärten. Iskuhi hatte es in der Schule von Zeitun eingeführt:

      »Die Unglückstage ziehen vorbei

       Gleich den Tagen des Winters, sie kommen und gehn.

       Die Schmerzen der Menschen bleiben nicht lang,

       Wie die Kunden im Laden, sie kommen und gehn.«

      Aram Tomasian aber eilte sofort herbei und verbot das Singen. Der junge Pastor legte den Weg der anderen zweimal und dreimal zurück. Er tauchte bald bei den vordersten Gruppen auf, dann wieder bei den Nachzüglern, immer mit seiner großen umgehängten Kürbisflasche, die er allseits zu einem Rakitrank anbot. Auch er verströmte guten Mut, machte Witze, schlichtete Meinungsverschiedenheiten und versuchte auch für den gegenwärtigen Zustand eine Lebensform zu finden, in dem jedermann irgendeine Aufgabe zufiel. Unter den Handwerkern zum Beispiel hatten die Schuster die Pflicht, schadhaftes Schuhwerk während der Rasten schnell auszubessern; und ähnliches mehr. Obgleich sich in dem Transport nur wenige Protestanten befanden, war Tomasian der einzige Geistliche. Sämtliche gregorianischen und katholischen Priester waren nämlich bereits in den beiden ersten Verschickungstagen abgegangen. Der Pastor hatte somit die Pflicht, für alle Seelen zu sorgen. Er verfolgte eine eigene Taktik, um die Kräfte der Ausgetriebenen wachzuhalten. Unerträglich ist nur das Ziellose, er wußte es von sich selbst. Darum wiederholte er im Tone der heitersten Zuversicht immer dasselbe:

      »Morgen abend kommen wir nach Marasch. Dort wird sich alles ändern. Wahrscheinlich werden wir dort längere Zeit untergebracht werden, bis der Befehl einlangt, daß wir heimkehren dürfen. Und wir werden heimkehren, das ist so gut wie sicher. Die Regierung in Stambul kann mit dem, was hier geschieht, nicht einverstanden sein. Wir haben ja schließlich Abgeordnete und eine Nationalvertretung. Auch werden die Konsuln einen großen Lärm schlagen. In zwei, drei Wochen kann alles wieder gut sein. Das Wichtigste aber ist, daß ihr mir gesund nach Marasch kommt und daß ihr stark und munter bleibt.«

      Solche Reden wirkten befreiend, auch auf diejenigen, die entweder von Natur Schwarzseher waren oder zu klug, an die Unschuld der Zentralregierung zu glauben. Verfallene Gesichter hellten sich auf. Nicht nur das günstige Zukunftsbild tat Wunder, sondern das Ziel, die bestimmte, festumrissene Aussicht: Morgen sind wir in Marasch. Bei der großen Rast erwies sich der junge Offizier, der die türkische Begleitmannschaft befehligte, als ein prächtiger Mensch. Nachdem die Soldaten abgekocht hatten, stellte er dem Pastor aus freien Stücken die Kochkiste der Truppe zur Verfügung. Für die Maroden und Schwachen konnte daher ein warmes Essen zubereitet werden. Da man aber schon morgen in einer großen Stadt sein würde, schonten auch die Kräftigen ihre Vorräte nicht. Dadurch gestaltete sich der Marsch in den nächsten Stunden besonders leicht und zuversichtlich. Als man dann am Abend auf freiem Felde das Lager bezog und in todmüder Gleichgültigkeit sich auf den Decken ausstreckte, mußte man Gott von Herzen danken, denn der erste Tag war sehr glimpflich verlaufen. Nicht weit entfernt von dem Freilager gab es ein großes Dorf, namens Tutlissek. In der Nacht kamen einige der Yailadji, der Bergbewohner, aus diesem Dorf herüber, um die türkische Wache zu besuchen. Die Männer saßen würdevoll beieinander, rauchten gravitätisch und schienen eine ernsthafte Unterhaltung zu führen. Als die Zeitunlis gegen Morgen erwachten und nach den Eseln und Ziegen sehen wollten, um sie zu tränken, waren die Tiere verschwunden.

      Dies СКАЧАТЬ