Название: Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen, Dramen & Gedichte (Über 200 Titel in einem Buch)
Автор: Franz Werfel
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9788075835543
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Juliette hätte sich am liebsten zu Iskuhi hingekniet, sie geküßt und einen Engel genannt. Irgend etwas aber machte jede gewöhnliche Zärtlichkeit unmöglich. Die Entrückung, die das Mädchen noch immer umhüllte, das Erlebte, in dem sie noch immer verpuppt war. Juliette konnte ihrem warmen Impuls nicht gehorchen. So begnügte sie sich damit, ihre Hand leicht über Iskuhis Haar zu führen und schweigend am Kopfende des Bettes zu warten, bis der stumm Weinenden die Augen zufielen und sie in der gütigen Leere versank.
Mairik Antaram hatte indessen Satos Fußwunden behandelt und verbunden. Dann wurde die Kleine in einer der Dienerkammern zu Bett gebracht. Kaum aber war sie in tiefen Schlaf verfallen, als sie markerschütternde Schreie auszustoßen begann. Während sie in all diesen Tagen niemals ein Zeichen der Angst von sich gegeben hatte, schienen in der Traum-Wiederholung des Lebens hundert Peitschen auf sie niederzusausen. Es half nichts, daß man sie immer wieder beutelte. Sie schlief unerweckbar, und nach einer Weile begann das Ächzen und gellende Kreischen wieder von neuem. Manchmal klang dieses lange Heulen, als klammere es sich an einen hilfreichen Namen an: Kütschük Hanum!
Während die grausigen Laute aus der entfernten Kammer drangen, traf Juliette ihren Sohn, der gerade die große Haustreppe heraufkam. Stephan glühte. Das Neue, das Unbekannte, das Drohende erfüllte ihn mit reizvollen Wallungen. Er hatte im November seinen dreizehnten Geburtstag gefeiert, kam demnach in das Alter, in dem Sensationen alle Knabenseelen begeistern. Auch große Gewitter und Wolkenbrüche beobachtete er vom Fenster mit dem sträflich funkelnden Wunsch, irgend etwas Außerordentliches möge geschehen. Jetzt horchte er, wohlig entsetzt:
»Hörst du, Mama, wie Sato schreit?«
Iskuhis Augen, mein Kind hat Iskuhis Augen, durchfuhr es Juliette, und die abgründige Verstrickung des Lebens wurde ihr einen Blitzschlag lang bewußt. Das erstemal packte sie eine große Angst um Stephan. Sie zog ihn in ihr Zimmer, preßte ihn an sich, während die fernen Schreie Satos noch immer das stille Treppenhaus durchhallten.
Am späteren Abend hatte Gabriel Bagradian den Priester Ter Haigasun, den Arzt Bedros Altouni und den Apotheker Krikor zu sich gebeten. Die Herren saßen allein in dem schwach beleuchteten Selamlik bei Tschibuk und Zigaretten. Gabriel wollte aus diesen drei hochgebildeten und sehr würdigen Notabeln herausbringen, wie sie die Dinge wirklich sahen, wie sie im Falle eines Ausweisungsbefehls zu handeln gedächten und welche Mittel der Siedlung am Musa Dagh zur Verfügung standen, um das tödliche Unheil abzuwenden. – Er brachte gar nichts heraus. Ter Haigasun schwieg beharrlich. Der Arzt erklärte, er sei schon Achtundsechzig, und die zwei, drei kurzen Jahre, die er noch zu leben habe, würden vorübergehen, so oder so. Käme aber das Ende auf irgendeine Weise früher, um so besser! Lächerlich, wer sich wegen ein paar lumpiger Monate Sorgen mache. Das ganze Leben sei nicht die Kosten einer einzigen Sorge wert. Die Hauptsache sei, den Menschen soviel und solange wie möglich Ängste zu ersparen. Darin sehe er seine Hauptpflicht, die er unter allen Umständen erfüllen wolle, alles andere gehe ihn nichts an. Apotheker Krikor rauchte in tiefer Ruhe sein Nargileh, das er mit Vorsicht vom Hause hierhergetragen hatte. Er wählte tiefsinnig unter den glühenden Kohlenstückchen das ihm sympathischste aus und drückte es langsam mit nackten Fingern auf den Tabakballen der Wasserpfeife. Vielleicht wollte er den andern sinnbildlich vorführen, daß er die Glut mit bloßen Händen greifen könne, ohne versengt zu werden. Sein schiefäugiger Mandarinenkopf mit dem Bocksbärtchen schien, von der feierlichen Aufmerksamkeit des Nargileh-Schmauchens tief erfüllt, alle Erregung zu mißbilligen, die des Geistes gelassenen Gleichmut verwirrte. Der Geist allein gibt der Wirklichkeit ein Recht, nicht umgekehrt. Warum etwas tun wollen? Alles Wirken ist in sich selbst schon verwirkt, das Denken aber denkt ewig. Krikor wußte nicht, was kommen werde. Er war jedoch willens, unter jeder Bedingung des Lebens, alles Zufällige, Gleichgültige, Unwesentliche, und sei es auch die härteste Veränderung, an sich abgleiten zu lassen. Zur Bekräftigung dieses wahrhaft philosophischen Ideals, dem er noch in und durch seine letzte Stunde zu dienen hoffte, wies er auf ein türkisches Sprichwort hin, das ebensogut in den Mund des alten Agha Rifaat Bereket gepaßt hätte:
»Kismetdén zyadé olmaß! Nichts geschieht, was nicht prädestiniert ist.« In diesen Worten tat sich die Gelegenheit auf, die quälende Tagesfrage zu verlassen und das Gespräch auf jene erhabenen Dinge hinzulenken, die, der zeitlich gehässigen Teilnahme längst entzogen, so kühl sind wie die Buchseiten, in denen sie ein göttliches Leben führen. Und die hohle Stimme des Apothekers verbreitete sich über die unterschiedlichen Prädestinationslehren, über das Verhältnis des Christentums zum Islam, über Gregor den Erleuchter, über das Konzil von Chalcedon und über den Vorrang der monophysitischen Lehre gegenüber der römisch-katholischen Anschauung. Schon die Worte allein berauschten. Der Priester sollte nur staunen, wie weit es ein Apotheker in der Theologie gebracht hatte. Er bekam auch die Namen, Daten und seltsamen Lehrmeinungen einiger Kirchenväter zu hören, von denen er in seiner Studienzeit nichts vernommen hatte, einzig darum, weil sie dem schöpferischen Ingenium Krikors ihr Dasein verdankten.
Zum Verzweifeln! Gabriel stampfte unhöflich mit dem Fuß auf. Jetzt haßte der Europäer in ihm all diese Schläfer und Schwätzer, die wehrlos im Tode versanken, wie sie im Schmutz umkamen. Er unterbrach Krikor mit einer verächtlichen Handbewegung:
»Ich möchte den Herren dringend eine Idee vorlegen, die mir heute eingefallen ist, während ich mit dem Saptieh Ali Nassif sprach. Ich bin schließlich noch immer türkischer Offizier, Frontkämpfer, besitze die Auszeichnungen aus dem letzten Balkankrieg. Was würden Sie davon halten, wenn ich mir meine Uniform anziehe und nach Aleppo reise? Dem General Dschemal Pascha habe ich vor Jahren einmal eine Gefälligkeit erwiesen ...«
Der alte Arzt fiel ihm beinah schadenfroh ins Wort:
»Dschemal Pascha hat sein Hauptquartier längst schon nach Jerusalem verlegt.«
Bagradian ließ sich nicht abbringen:
»Macht nichts! Wichtiger als Dschemal Pascha ist Djelal Bey, der Wali. Ich kenne ihn nicht, wir aber wissen alle von ihm, wer er ist und daß er uns nach Kräften helfen will. Wenn ich nun bei ihm erscheine, daran erinnere, daß der Musa Dagh abseits der Welt liegt und wir schon deshalb nichts mit irgendeiner Politik zu tun haben können, vielleicht ...«
Gabriel sprach nicht weiter und horchte in das ungerührte Schweigen. Nur das Wasser in Krikors Nargileh gluckste dann und wann. Es dauerte recht lange, ehe Ter Haigasun seinen Tschibuk zur Seite legte:
»Der Wali Djelal Bey« – er sah prüfend vor sich hin – »ist gewiß ein großer Freund der Nation. Er hat uns einige Wohltaten erwiesen. Unter seiner Regierung war auch das Ärgste nicht zu befürchten. Leider aber ist ihm seine Freundschaft sehr wenig gut bekommen ...«
Ter Haigasun zog aus seinem weiten Ärmel eine zusammengefaltete Zeitung:
»Heute ist Freitag. Der ›Tanin‹ vom Dienstag. Die Nachricht ist kleingedruckt und steht an einer unauffälligen Stelle.« Er hielt die Zeitung weit vor die Augen: »Wie aus dem Ministerium des Innern mitgeteilt wird, ist S. E. der Wali von Aleppo, Djelal Bey, in den dauernden Ruhestand versetzt worden. – Das ist alles.«
Fünftes Kapitel
Zwischenspiel der Götter
Die homerischen Helden kämpfen um das skäische Tor und jeglicher von ihnen wähnt, daß Sieg oder Niederlage seinen Waffen anheimgegeben sei. Der Kampf der Helden aber ist nur eine Spiegelung des Kampfes, den über ihren Häuptern die rufenden Götter führen, um das menschliche Los zu entscheiden. Doch selbst die Götter wissen nicht, daß auch СКАЧАТЬ